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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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würde wie vorher.
    Sie war noch so benommen vor Schreck, dass sie mit gesenktem Kopf hinter Mira herlief, als sie von der Schleuse durch verschiedene Gassen und Höfe geführt wurden. Das Gebäude, das sie dann betraten, schien eine riesige Kaserne zu sein. Es ging durch Gänge und über Treppen hinauf zu einem Dachboden. Zwischen Gepäckstücken lagen oder hockten unzählig viele Frauen auf dem nackten Fußboden. Niemand beachtete Hanna und ihre Freundinnen, als sie über Koffer und Taschen stiegen, über Rucksäcke, über Beine und Füße, vorsichtig, um niemanden zu treten. Manche Frauen schliefen, andere unterhielten sich leise miteinander, an den Wortfetzen, die sie im Vorbeigehen aufschnappten, hörten sie, dass die meisten Deutsch sprachen. Mira zog Hanna und Bella hinter sich her zur hinteren Wand, wo sie noch eine freie Stelle fanden. Auch Rachel und Rosa drängten sich dazu. Dicht nebeneinander streckten sie sich auf dem Boden aus.
    »Gibt es noch etwas zu essen?«, fragte Mira eine Frau, die ein wenig zur Seite gerückt war, um ihnen Platz zu machen, und sie nun, den Kopf auf die Hände gestützt, ungeniert musterte.
    »Nein«, antwortete die Frau. »Ihr seid zu spät gekommen, bis morgen früh gibt es nichts mehr. Habt ihr denn nichts dabei?«
    Mira schüttelte den Kopf, und die andere fragte, woher sie gekommen seien.
    »Aus Dänemark«, sagte Mira.
    »Ich heiße Gerda«, sagte die Frau. »Ich komme aus München.«
    »Seit wann bist du hier?«, fragte Mira.
    »Seit fünf Wochen«, antwortete die Frau, die Gerda hieß. In dem dämmrigen Licht sah Hanna nur ihre dunklen Augen in einem blassen Gesicht, das gegen die kurzen, schwarzen Haare, die ihr wie ein Helm um den Kopf lagen, besonders hell aussah. Sie schien jung zu sein, nicht älter als Mira, und ihre Stimme klang angenehm.
    Mira rutschte näher zu Gerda hinüber. »Wo sind wir hier?«, fragte sie. »Wir wissen überhaupt nicht, wo wir sind und warum wir hier sind.«
    »Warum ihr hier seid, weiß ich auch nicht«, sagte Gerda. »Außer dass ihr Juden seid, fällt mir absolut kein Grund ein. Oder habt ihr etwa kleine Christenkinder zum Frühstück verzehrt und deutschen Witwen und Waisen die Butter vom Brot geklaut?« Sie stieß ein bitteres Lachen aus. »Nein, warum ihr hier seid, das wissen nur Gott im Himmel und der große Führer auf Erden. Aber wo ihr seid, kann ich euch sagen. Ihr seid in Theresienstadt, auf Tschechisch Terezín. Die Stadt liegt in einer Ebene, nicht weit von der Stelle, wo die Eger in die Elbe fließt. Früher war diese Stadt eine Festung. Der österreichische Kaiser Joseph II. hat sie vor ungefähr hundertfünfzig Jahren als Garnisonsstadt für seine Soldaten erbauen lassen, deshalb gibt es hier jede Menge Kasernen und Kasematten.«
    »Was ist das, Kasematten?«, wollte Mira wissen.
    »Diese langen Unterstände, halb in der Erde, halb außerhalb, mit flachen Dächern, auf denen Gras wächst. Sie müssen euch doch aufgefallen sein.«
    Hanna waren sie nicht aufgefallen, aber sie hörte weiter zu, wie Gerda erzählte, dass die früheren Bewohner Theresienstadts in den letzten Jahren gezwungen worden waren, ihre Wohnungen zu verlassen, damit die Deutschen hier ein Ghetto errichten konnten, für die Juden aus der Tschechoslowakei und für alte, verdienstvolle Juden aus Deutschland. »Sie haben vor allem ehemalige Kriegsteilnehmer hergebracht«, sagte Gerda. »Viele mit einem Eisernen Kreuz für Verdienste um Kaiser und Vaterland. Das nützt diesen armen Schweinen jetzt allerdings nichts mehr. Zu krechzn * , würde meine Mutter sagen. Außerdem gibt es jede Menge Wissenschaftler, die sich über die Grenzen Deutschlands einen Namen gemacht haben, Ärzte, Rechtsanwälte und Künstler. Ich wette, wenn hier jemand rufen würde, wo ist denn der Herr Doktor aus Deutschland, würde halb Theresienstadt ›hier‹ schreien.«
    Was für ein seltsames Deutsch diese Gerda spricht, dachte Hanna, es klingt viel härter als unseres. Sie holte die braune Wolldecke, die Frau Hvid ihr gegeben hatte, aus ihrem Rucksack und legte sie über sich und Rachel, die sich ganz fest an sie schmiegte.
    »Hanna, ich habe Angst«, flüsterte Rachel mit einer Stimme, der die unterdrückten Tränen anzuhören waren.
    »Ich auch«, sagte Hanna. Sie streckte den Arm aus und Rachel legte den Kopf an ihre Schulter. Hinter Rachel drängten sich Bella und Rosa. Eng aneinandergedrückt lagen sie da. Wie Ferkel in einem Schweinekoben, dachte Hanna. Dieser Gedanke kam ihr

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