Ein Buch für Hanna
Arm. »Da drüben, in L 315, ist die Ghettowache untergebracht. Die jüdische Selbstverwaltung ist für die innere Ordnung verantwortlich. Das hört sich prima an, aber in Wirklichkeit sind die Leute Marionetten. Sie müssen das tun, was die Deutschen anordnen, sonst nichts. Sie geben nur die Tagesbefehle weiter, die sie von der Kommandantur bekommen. Und ihre Hauptaufgabe ist es, die Listen für die Transporte zusammenzustellen. Im Haus der Ghettowache gibt es auch einen Saal, in dem manchmal kulturelle Veranstaltungen stattfinden.«
»Woher weißt du so viel über Theresienstadt?«, fragte Hanna.
»Als ich hier angekommen bin, hat neben mir eine Frau gelegen, die mir alles erklärt hat«, antwortete Gerda. »Eine tolle Frau, ehemalige Geschichtslehrerin an einem Gymnasium in Hamburg. Ich wollte genauso viel wissen wie ihr. Ich habe gefragt und sie hat geantwortet.«
»Und wo ist diese Frau jetzt?«, erkundigte sich Rachel. Gerda tat, als hätte sie die Frage nicht gehört, sie presste die Lippen zusammen und ging weiter.
Alle Häuser sahen gleich heruntergekommen aus. Die ehemaligen Kasernen, die zum Beispiel Hamburger, Magdeburger, Dresdener oder Hohenelber Kaserne hießen, hatten zwei oder drei Innenhöfe, verbunden durch breite Tore. An viele Mauern waren Hütten angebaut, sie hingen wie Schwalbennester an den Steinen, und da und dort standen Baracken. Gerda führte sie auch in einen der großen Kasernensäle, in denen Frauen untergebracht waren, mindestens hundert oder zweihundert Frauen in jedem Saal, schätzte Hanna. Es gab dreistöckige Pritschen, auf denen immer zwei Frauen schliefen, und an einer Wand Kleiderhaken, hohe, schmale Brettergestelle, in denen die Frauen ihre Sachen unterbringen konnten, aber viel mehr als ein Handtuch hätte in ein Fach nicht hineingepasst. Die Koffer und Rucksäcke waren übereinandergestapelt.
»Ihr müsst versuchen, in eine Kaserne zu kommen«, sagte Gerda. »Notfalls auch in eine Kasematte oder einen Keller oder sonst wohin. Alles ist besser als unser Dachboden.«
Hanna betrachtete die Pritschen. Auf manchen saßen oder lagen Frauen, magere, teilnahmslose Gestalten. Andere Frauen putzten oder bemühten sich wenigstens zu putzen. Verlockend sah es hier nicht aus, aber Gerda hatte recht, alles war besser als das Gedränge auf dem Dachboden, wo es kaum eine Möglichkeit gab, sich zum Schlafen auszustrecken, und wo man ständig von Knien oder Ellenbogen gestoßen und aus dem Schlaf gerissen wurde.
»So sieht es also aus, euer neues Zuhause«, sagte Gerda, als sie zu ihrem Dachboden zurückgingen. »Herzlich willkommen am tuches * des Großdeutschen Reichs.« Sie verzog das Gesicht, als würde sie lachen, aber es sah eher aus wie eine Grimasse, und in ihrer Stimme lag ein seltsamer Ton, irgendetwas zwischen Hohn und Verzweiflung. Rachel fing an zu weinen und Hanna legte ihr den Arm um die Schulter.
Tagelang bewegte Hanna sich wie betäubt, wie in einem bösen Traum. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, sie tat, was man ihr sagte, und lief herum wie in Watte, in durchsichtiger Watte, und wenn Mira oder eine der anderen sie ansprach, gab sie keine Antwort. »He, reiß dich zusammen«, schimpfte Mira.
»Ich will nicht«, sagte Hanna. »Ich will das alles nicht.«
»Was du willst, ist egal«, fauchte Mira. »Du musst. Du hast keine Wahl.«
An einem Morgen brach Hanna zusammen, sie blieb einfach auf dem Boden liegen und weinte und konnte nicht mehr aufhören zu weinen. Mira schüttelte sie, aber sie schaffte es nicht einmal, den Kopf zu heben. Die anderen gingen hinunter, um sich ihre Ration des schrecklichen Kaffees zu holen, doch Hanna blieb liegen. Da holte Mira aus ihrem Rucksack einen verschrumpelten Apfel und drückte ihn Hanna in die Hand. »Hier, der ist noch von Rosch Haschana. Ich habe ihn für eine besondere Gelegenheit aufgehoben.« Sie lächelte. »Ehrlich gesagt, ich habe gar nicht mehr gewusst, dass er noch da ist, ich habe ihn vorhin erst entdeckt, sonst hätte ich ihn doch längst gegessen.«
Hanna war so erstaunt, dass sie aufhörte zu weinen. Sie biss in den Apfel, biss hinein und kaute so lange, bis sich das Fruchtfleisch in ihrem Mund aufgelöst hatte und nur noch eine süße, sämige Flüssigkeit übrig blieb, die sie dankbar schluckte. Für einen Moment war es, als säßen sie in Dänemark, in der Küche des Lindenhofs, und Bente hätte ihnen etwas zu essen hingestellt. Mira lächelte sie an, und Hanna verstand, dass Mira ihr ein Spiel anbot:
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