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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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so absurd vor, dass sie fast gelacht hätte, aber sie war zu müde, um ihn auszusprechen. Gerdas Stimme plätscherte an ihren Ohren vorbei, mischte sich mit den anderen Stimmen auf dem Dachboden, dem Husten, dem Stöhnen, den rasselnden Atemzügen der bereits schlafenden Frauen. Sie drehte sich auf die Seite, legte den anderen Arm um Rachels schmale Schultern und schloss die Augen. Noch nie war sie so müde gewesen. Zu müde zum Denken, zu müde zum Weinen.
    Am nächsten Morgen, im Moment des Aufwachens, glaubte sie noch an einen bösen Traum. Mit geschlossenen Augen lag sie da und wartete darauf, die üblichen Geräusche zu hören, das laute Krähen des Hahns, das Gackern der Hühner, das Muhen der Kühe, wenn Morten die Stalltür aufmachte, und alles untermalt von Vogelgezwitscher. Doch es war etwas anderes, das an ihr Ohr drang, nämlich das Gewirr vieler Stimmen, das Scharren von Füßen, das Rücken von Gegenständen, lautes Schimpfen. Erschrocken riss sie die Augen auf und wusste, dass sie nicht geträumt hatte. Das hier war kein Traum, es war bittere Wirklichkeit. Rachel lag noch dicht neben ihr.
    »Aufstehen«, sagte Gerda.
    Hanna zog den Arm unter Rachels Kopf hervor. Sie erhob sich, faltete die Decke zusammen und verstaute sie in ihrem Rucksack. Ein Blick auf Rachels Gesicht zeigte ihr, dass sie geweint hatte. Hanna strich ihr im Vorbeigehen über den Arm, mehr konnte sie nicht tun.
    Gerda führte sie hinunter in den Hof, in dem Kaffee verteilt wurde. Viele Frauen waren schon da, unzählig viele Frauen, und bildeten lange Warteschlangen. Mira, Hanna, Rachel, Bella und Rosa waren zu langsam, sie ließen sich abdrängen und landeten am Ende einer Schlange. Als sie endlich an die Reihe kamen, erhielten sie Essgeschirre aus Blech und eine Kelle bräunlicher, schlammiger und übel riechender Brühe, die genauso schrecklich schmeckte, wie sie roch. Hanna spuckte sie gleich wieder aus und hob die Hand mit dem Geschirr, um das ekelhafte Gebräu auszukippen. Doch Mira packte ihren Arm und hielt ihn fest. »Trink!«, befahl sie mit harter Stimme. Ihr Gesicht war blass, ihre braunen Augen glühten.
    Hanna wollte protestieren, aber Mira unterbrach sie. »Du trinkst«, zischte sie in einem Ton, den Hanna noch nie von ihr gehört hatte. »Du trinkst das Zeug, egal ob es dir schmeckt oder nicht.« Und als sie Hannas entsetztes Gesicht sah, fügte sie etwas freundlicher hinzu: »Das hier ist kein Luxushotel, falls du es noch nicht gemerkt haben solltest.« Sie starrte Hanna an, ihr Blick, unerbittlich und fordernd, ließ sie nicht los. »Trink, hast du verstanden? Auf der Stelle trinkst du das!«
    Hanna fühlte sich wie hypnotisiert, sie war unfähig, sich zu wehren. Sie hob das Blechgefäß an die Lippen und würgte das Zeug hinunter, während Miras Blick sie festhielt. Und als sie noch eine dünne Scheibe Brot bekamen, hartes, graues Brot, das man auf Fünen höchstens an die Schweine verfüttert hätte, sagte Mira: »Los, iss das!«
    Und Hanna kaute das Brot und schluckte es hinunter.
    Am schlimmsten fand sie jedoch die Gemeinschaftslatrinen. Sie mussten lange anstehen, und als sie endlich drankamen und Hanna die Löcher sah, über denen die Frauen hockten, und den Gestank roch, wäre sie am liebsten wieder hinausgerannt. Aber Mira packte sie am Arm und hielt sie fest. »Du machst es wie alle anderen«, zischte sie im selben Ton wie vorher bei dem ekelhaften Getränk. »Spiel hier ja nicht die Prinzessin auf der Erbse.«
    Hanna biss die Zähne zusammen, aber der Druck, den sie vorher verspürt hatte, war wie weggeblasen, sie konnte sich nicht entleeren. Es dauerte ein paar Tage, bis ihr Darm wieder funktionierte.
    Später führte Gerda sie durch das Ghetto. »Straßen, die von Norden nach Süden gehen, heißen Längsstraßen, abgekürzt L«, erklärte sie, »und die Straßen von Ost nach West heißen Querstraßen, abgekürzt Q, und die einzelnen Blocks haben Nummern.«
    Sie zeigte ihnen auch die wichtigsten Häuser, zum Beispiel Q 414, der Block der SS-Lagerkommandantur. Im Keller des Gebäudes gab es den sogenannten Bunker, in dem Häftlinge zur Strafe eingesperrt wurden, wenn sie eine Lagerordnung übertreten hatten. Auf dem benachbarten eingezäunten Marktplatz stand ein dreiteiliges Zelt, das aussah wie ein Zirkuszelt.
    »In dem arbeiten Häftlinge«, erzählte Gerda. »Sie montieren irgendwelche Zubehörteile für Militärautos. Andere Häftlinge dürfen den Platz nicht betreten, nur die Arbeiter.« Sie hob den

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