Ein Buch für Hanna
Sie sollten so tun, als ob. Hanna war bereit, dieses Spiel mitzuspielen, Mira sollte sich nicht umsonst bemüht haben. Sie hielt der Freundin den Apfel mit der Aufforderung hin, auch einen Bissen zu nehmen, und fragte: »Wieso hat man euch eigentlich erwischt, nur euch?« Zugleich wunderte sie sich, warum sie diese Frage erst jetzt stellte.
Abwechselnd bissen sie in den Apfel, nahmen ganz kleine Stücke, um lange etwas davon zu haben, und Mira erzählte dabei, wie sie den Deutschen in die Hände gefallen waren. Sie, Rachel, Bella und Rosa hatten beschlossen, gemeinsam Rosch Haschana zu feiern, deshalb waren sie nach Nyborg ins Zentrum gefahren. Sie wollten dort schlafen und erst am nächsten Morgen nach Hause zurückkehren. Doch mitten in der Nacht kamen die Deutschen. Eigentlich suchten sie Inger Abrahamson und ihren Mann, die waren jedoch gar nicht da, sie waren für die Feiertage zu Ingers Eltern gefahren. »Nun, damit sie den Weg nicht vergeblich gemacht haben, haben sie wenigstens uns vier mitgenommen«, sagte Mira.
»Und was ist mit den anderen? Mit Efraim?«
Mira zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.« Sie strich sich die Haare aus der Stirn. »Findest du es nicht seltsam, dass wir deshalb geschnappt wurden, weil wir einen jüdischen Feiertag begehen wollten? Ausgerechnet wir, die wir so gar nicht fromm sind. Was für einen dummen, hinterhältigen Streich hat uns das Schicksal gespielt. Und dir auch.«
Hanna senkte den Kopf. »Es war nicht das Schicksal«, sagte sie. »Es war auch nicht Gott, wie sie uns früher, in der Schule, weismachen wollten. Es waren diese Nazis. Es war dieses schreiende Ungeheuer, sein Name sei ausgelöscht.«
»Bis in alle Ewigkeit«, sagte Mira. »Und jetzt komm, vielleicht kriegen wir ja noch was.«
Hanna stand auf. Sie war bereit, so zu tun, als ob. Als wäre dies hier nichts anderes als eine weitere Etappe ihres Lebens. Dankbar berührte sie Miras Hand.
Elftes Kapitel
H anna hatte noch nie gern gewartet, aber das Warten in Theresienstadt war etwas ganz anderes, es war nicht zu vergleichen mit dem Warten auf einen Autobus, mit dem Warten auf ein Treffen im Zentrum, mit dem Warten darauf, dass Mira mit ihrem Fahrrad um die Scheunenecke fuhr. Hanna hatte das Gefühl, als bestünde das Leben in Theresienstadt nur aus Warten, aus stundenlangem Anstehen und Warten, egal wie das Wetter war, ob sie klatschnass wurden oder im kalten Wind froren. Warten vor dem Waschraum, Warten vor der Latrine, Warten vor der Essenausgabe. Morgens auf den Kaffee, mittags und abends auf das warme Essen, das meist aus Suppe bestand, Kartoffelsuppe, Kohlsuppe, Rübensuppe, Linsensuppe, Bohnensuppe, Erbsensuppe. Eine Suppe schmeckte wie die andere, auch wenn sie gelegentlich einen anderen Namen hatte. Meist handelte es sich um eine undefinierbare, dünne Flüssigkeit, die zur Abwechslung manchmal nach Kümmel schmeckte und manchmal nicht, und nicht selten war sie auch versalzen.
Trotzdem war diese Suppe immer das Ziel aller Wünsche und Sehnsüchte. Suppe bedeutete, dass das hohle Gefühl im Bauch ein wenig besänftigt wurde, dass man zumindest für kurze Zeit den ständigen Hunger vergessen konnte, er stellte sich sowieso schnell wieder ein. Und das höchste Glück war es, wenn der Austeilende die Kelle tief in den Kessel senkte und das begehrte Dicke vom Boden fischte, an dem sich ein paar Kartoffel- oder Gemüsestücke abgesetzt hatten, oder wenn es einem gar gelang, einen Nachschlag zu ergattern. Suppe war Leben, Suppe war Glück, wenigstens so lange, bis sie aufgegessen war.
Hanna, Mira, Bella, Rosa und Rachel konnten bald nur noch von Essen sprechen. Ihr Hunger wurde von Tag zu Tag größer und schwerer zu ertragen. »Wir haben uns in Dänemark an gutes Essen gewöhnt«, sagte Mira, »das müssen wir jetzt büßen.«
»Nicht nur an gutes Essen, sondern auch an reichliches«, sagte Rachel sehnsüchtig.
»Das sieht man euch an«, sagte Gerda. »Ihr habt noch was zuzusetzen.«
Hanna betrachtete die Freundinnen. Sie sahen tatsächlich noch einigermaßen gut genährt aus, verglichen mit den Frauen, die schon länger hier waren. Auch Gerda war zwar dünn, aber nicht so abgemagert wie viele andere, die vor ihnen in der Schlange vor dem Suppenkessel standen. »Wartet’s nur ab«, sagte Gerda, als sie Hannas Blick bemerkte. »Alle sehen bei ihrer Ankunft ganz gut aus, gut genährt und gut angezogen, aber das hält hier nicht lange vor.« Die Drohung in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
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