Ein Buch für Hanna
über den Rinnstein gelegt war. Da drunten war es ebenso finster wie in seiner Schachtel zu Hause. Aber die Strömung wurde immer stärker, und der Zinnsoldat konnte dort, wo das Brett aufhörte, schon wieder den hellen Tag schimmern sehen; aber er hörte von dorther ein wildes Gebrause, über das wahrlich auch ein tapferer Mann erschrecken konnte. Denkt euch nur, wo das Brett aufhörte, stürzte das Wasser aus dem Rinnstein in einen breiten Kanal, und dahinunter zu fahren war für den Zinnsoldaten so gefährlich wie für uns, einen großen Wasserfall hinuntergerissen zu werden. Das Boot drehte sich drei- bis viermal im Kreise und füllte sich bis an den Rand mit Wasser, sodass es untersinken musste. Dem Zinnsoldaten ging das Wasser schon bis an den Hals und das Boot sank noch immer tiefer, ja, das Papier löste sich sogar immer mehr auf. Jetzt schlug das Wasser dem Soldaten über dem Kopf zusammen – noch einmal dachte er an die reizende kleine Tänzerin, die er nun nie mehr zu sehen bekommen würde.«
Hanna hielt inne, weil sie an die Abende auf dem Lindenhof denken musste und an Bente, die sich so leicht von Märchen rühren ließ. Und an jene Nacht, in der Bente sie getröstet hatte. Auf einmal empfand sie eine solche Sehnsucht nach Bentes warmen Armen, nach ihren tröstenden Händen, dass sie einen Moment lang kein Wort herausbrachte.
»Erzähl schon weiter«, drängte Rachel. »Das ist schön. Fast wie früher, zu Hause.«
»Aber dann wird der Soldat von einem Fisch gefressen«, fuhr Hanna fort. » Nein, was war es im Bauch des Fisches finster! Das war noch viel schlimmer als unter dem Rinnsteinbrett und außerdem war es in dem Bauch auch sehr eng. Aber der Zinnsoldat blieb standhaft …«
Wieder unterbrach sie sich, zögerte, bevor sie weitersprach. »Es ist ein Märchen und in Märchen passieren nun mal märchenhafte Dinge. Der Fisch wird jedenfalls gefangen und ausgerechnet an die Köchin des Hauses verkauft, in dem sich das Kinderzimmer mit dem Spielzeugschloss und der Tänzerin befindet. Die Köchin schneidet den Fischbauch auf, und der Zinnsoldat landet da, wo er hergekommen ist. Die reizende kleine Tänzerin steht auch noch vor dem Schloss, mit erhobenen Händen und das eine Bein hoch in die Luft gestreckt. Nur leider wird der Soldat dann doch von einem Jungen ins Feuer geworfen, ohne dass er einen Grund dafür gehabt hätte . Der Zinnsoldat stand hell beleuchtet da, er fühlte eine entsetzliche Hitze; ob er aber vor richtigem Feuer oder vor Liebesfeuer lichterloh brannte, wusste er selbst nicht. Er schaute die kleine Tänzerin an, sie schaute ihn an, und er fühlte, wie er dahinschmolz . Da packt ein Windstoß die Papiertänzerin und weht sie zu ihm ins Feuer, sodass beide verbrennen. Vielleicht aus Liebe.« Hannas Stimme erstarb, sie wusste, dass sie das Märchen nicht besonders gut erzählt hatte. Damals, bei Bente, hatte es sich viel besser angehört und zum Lindenhof hatte es auch viel besser gepasst.
»Das ist keine schöne Geschichte«, sagte Rachel.
Und Mira sagte: »Aber eine realistische. Wir sind alle Zinnsoldaten und aus dem Fenster gefallen. Der Transport nach Theresienstadt war die Fahrt im Rinnstein, und jetzt sind wir im Bauch des Fisches, deshalb ist es auch so dunkel um uns. Nein, was war es im Bauch des Fisches finster! Das war noch viel schlimmer als unter dem Rinnsteinbrett. «
Rachel seufzte. »Hoffentlich kommt jemand, der dem Fisch den Bauch aufschneidet und uns herausholt.«
Mira stand auf und kletterte die Leiter zu ihrer Pritsche hinauf. Dann beugte sie sich vor, sodass ihr Kopf über den Rand hing, und sagte böse: »Und warum sollte jemand dem Fisch den Bauch aufschneiden und uns herausholen? Damit uns jemand ins Feuer wirft, ohne dass er einen Grund gehabt hätte ?« Danach wollte sie keine Märchen mehr hören.
Sie kannten sich inzwischen in Theresienstadt aus. Das Ghetto war nicht wirklich groß, aber es war hoffnungslos überfüllt. »Die Kasernen sehen aus wie riesige, löchrige Schuhkartons«, sagte Hanna eines Abends. »Und aus allen Löchern krabbeln Menschen wie Ameisen und wimmeln in den Straßen herum, ohne dass man sieht, wohin sie wollen und was sie vorhaben. Es ist ein sinnloses Durcheinander.«
»Kein Wunder«, sagte Gerda. »Vor dem Krieg haben hier, einschließlich der Soldaten, höchstens siebentausend Menschen gelebt, jetzt sind es vermutlich fast zehnmal so viel. Genaue Zahlen gibt es nicht, kann es ja auch gar nicht geben, schließlich hängt
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