Ein Buch für Hanna
Wartet’s nur ab.
Sie blieben kaum zwei Wochen auf dem Dachboden, da hatte Mira es geschafft, sie in einer Kaserne unterzubringen. Rachel und Rosa teilten sich eine untere Pritsche, Mira und Hanna die Pritsche darüber, und die obere besetzten Bella und Gerda, die sich ihnen angeschlossen hatte. Hier konnten sie sich zum Schlafen ausstrecken, und alles wäre nicht so schlimm gewesen, hätte es nicht so viele Läuse und Wanzen gegeben. Hanna konnte kaum schlafen, ihre Arme und Beine juckten unerträglich. »Sie fressen mich auf«, stöhnte sie und zeigte ihre zerbissenen Beine.
»Das Ungeziefer gehört zu Theresienstadt«, sagte Gerda, »am besten beachtet ihr es nicht. Außer dass wir jeden Tag unsere Kleidung ausschütteln, kann man nichts tun. Fangt ja nicht an zu kratzen, sonst gibt’s Furunkel.«
Hanna bemühte sich, Gerdas Rat zu befolgen. Sie bekämpfte den Juckreiz mit Spucke, und im Lauf der Zeit wurden die Bisse so normal wie der Hunger, nur nachts wachte sie manchmal auf und merkte, dass sie sich doch gekratzt hatte.
Mira hatte auch dafür gesorgt, dass sie alle in Arbeitsgruppen kamen, denn das bedeutete ein Stück Brot zusätzlich. »Und außerdem ist man beschäftigt und hat keine Zeit, sich unnötige Gedanken zu machen«, hatte sie gesagt.
Sie selbst hatte eine Stelle in der sogenannten Geniekaserne gefunden, in der neben alten Häftlingen auch Kranke untergebracht waren. Die Arbeit war nicht nur körperlich schwer, sondern auch seelisch belastend, und Mira war oft bedrückt, wenn sie von dem Elend erzählte, das sie dort sah, und ihre eigene Hilflosigkeit verfluchte. Denn viel tun konnte sie für die alten und kranken Menschen nicht, ihre Arbeit beschränkte sich darauf, die Räume einigermaßen sauber zu halten und Bettpfannen zu leeren. Bella und Rosa arbeiteten in der Wäscherei und bei der Desinfektion und hatten schon nach wenigen Tagen vom Hantieren mit den scharfen Mitteln aufgerissene und wunde Hände. Hanna, Rachel und Gerda ging es nicht viel besser, sie gehörten zu einer Putzkolonne. Hanna, die inzwischen gelernt hatte, Latrinen zu benutzen, ohne sich viel dabei zu denken, lernte nun sogar, sie zu putzen.
Abends, wenn sie, müde und erschöpft von der schweren Arbeit, noch eine Weile auf der unteren Pritsche zusammensaßen, wurden ihre Gespräche immer langsamer, die Pausen zwischen den einzelnen Sätzen länger. Hatten sie anfangs ständig über Essen geredet, sich gegenseitig erzählt, was sie kochen würden, wenn das alles hier vorbei wäre, wussten sie jetzt oft nicht, was sie sagen könnten. Sie wurden zunehmend schweigsamer.
Hanna fiel auf, dass besonders Rosa, die nie sehr viel geredet hatte, noch stiller wurde.
»Was war früher eigentlich euer Lieblingsgericht?«, fragte Rachel eines Abends. »Meines war Sauerbraten mit Rotkraut und Pudding zum Nachtisch.«
»Hör auf«, fuhr Mira sie an. »Es ist nicht gut, immer nur über Essen zu reden. Los, Hanna, erzähl uns eine Geschichte, du kennst doch so viele.«
»Ich weiß nur Märchen«, wehrte Hanna ab. Aber als die anderen drängten, fing sie an, ihnen vom Zinnsoldaten zu erzählen, dem ein merkwürdiges Schicksal beschieden war. Sie erzählte, wie er mit seinen Brüdern in einem Kinderzimmer landete, standhaft auf seinem einen Bein stand und die liebreizende Tänzerin betrachtete, die vor einem Spielzeugschloss aus bemaltem Pappkarton stand.
Auch dieses Fräulein war aus Kartenpapier ausgeschnitten, hatte aber ein Röckchen aus dem feinsten Batist an und trug als Schärpe ein blaues Band über der Schulter. Das Band war durch einen goldenen Flitter zusammengehalten, der so groß war wie des Fräuleins ganzes Gesicht. Dieses Fräulein hob beide Hände in die Höhe, denn es war eine Tänzerin, und streckte das eine Bein so hoch in die Luft, dass es der Zinnsoldat überhaupt nicht finden konnte und daher meinte, sie habe nur ein Bein wie er selbst. »Das wäre eine Frau für mich«, dachte er.
» Doch dann fällt der Soldat aus dem Fenster«, sagte Hanna, »und ein Missgeschick führt zum nächsten. Nach einem Platzregen setzen zwei Jungen den armen Zinnsoldaten in ein Papierboot und dieses in die Gosse mit dem abfließenden Regenwasser. Das Papierboot schwankte auf und nieder und drehte sich von Zeit zu Zeit im Kreise, dass es dem Zinnsoldaten ganz schwindlig wurde; aber er blieb standhaft, veränderte keine Miene, sah geradeaus und schulterte das Gewehr. Plötzlich trieb das Boot unter ein langes Brett, das als Brücke
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