Ein Buch für Hanna
merken, und die Welt wird erfahren, wie wir hier leben. Bestimmt. Und dann müssen sie etwas unternehmen, sie können doch nicht einfach zuschauen.«
Doch Hanna hörte den Zweifel hinter den so betont zuversichtlichen Worten. Ach, Mira, dachte sie, wem willst du eigentlich Mut machen, dir selbst oder uns? Aber sie sprach diese Worte nicht aus.
Abends, nach der Ausgangssperre, kam Marek zu ihnen, er hatte sich durch Höfe und über Mauern zu ihnen geschlichen. Sie drängten sich in einer Hofecke zusammen und unterhielten sich leise.
»Wir haben eine Probe für Brundibár machen müssen«, erzählte Marek. »Die Delegation kam herein, und wir mussten tun, als wäre alles ganz normal. Sie haben uns ein paar Minuten zugeschaut und sind dann wieder gegangen.« Marek zuckte mit den Schultern, dann sagte er: »Die Kinder haben schon seit Wochen gutes Essen bekommen, damit sie zunehmen und besser aussehen. Und man hat ihnen ordentliche Sachen angezogen und ihnen belegte Brote in die Hand gedrückt, Brote mit Ölsardinen. Und dafür mussten sie, als Kommandant Rahm * mit der Delegation vorbeiging, laut sagen: ›Och, Onkel Rahm, schon wieder Sardinen!‹ Als würden sie jeden Tag welche bekommen und sie würden ihnen schon zum Hals raushängen.«
»Ölsardinen«, sagte Bella sehnsüchtig. »Wisst ihr noch, wann wir das letzte Mal Ölsardinen gegessen haben?«
»Ich weiß überhaupt nicht mehr, wie sie geschmeckt haben«, sagte Rosa und fing an zu weinen.
Hanna schloss die Augen. »Für Ölsardinen hätte ich das auch gesagt.«
Marek legte den Arm um ihre Schulter. »Gut, dass man dich nicht gefragt hat«, sagte er. »Mein Vater meint, dass alle, die bei dieser hinterhältigen Komödie mitgespielt haben, in den Osten deportiert werden. Möglichst schnell, damit sie nichts erzählen können.«
Hinterher erfuhren sie, dass ein Schweizer und zwei Dänen als Vertreter des Roten Kreuzes da gewesen waren. Doktor Eppstein * , der Vorsitzende des Ältestenrats der Juden, sei gezwungen worden, den Besuchern alles Mögliche zu erzählen, von einer angeblichen Selbstverwaltung, von geordneten Verhältnissen und so weiter. Für lange Zeit machten die seltsamsten Geschichten die Runde, besonders die Sache mit den Kindern und den Ölsardinen wurde immer wieder diskutiert, ausgeschmückt und weitererzählt. Manche meinten, es sei unwürdig gewesen, sich für solch eine verlogene Inszenierung herzugeben, andere widersprachen und sagten, fürs Überleben sei kein Preis zu hoch.
Mareks Vater sollte mit seiner Vermutung, dass alle, die bei dieser Komödie mitgespielt hatten, in den Osten deportiert würden, recht behalten. In den folgenden Wochen wurden die meisten »Schauspieler« Transporten zugeteilt, und bald war Theresienstadt »künstlerfrei«, wie Mira es nannte. Die Diskussionen über den Besuch der Delegation hörten auf.
Im September gab es neue Transporte in den Osten, große Transporte mit vielen Tausend Menschen. Und eines Abends, als Hanna Marek und Doktor Sigel besuchen wollte, waren die beiden nicht mehr da. Ihre Ubikation war leer. Eigentlich verstand Hanna sofort, was passiert war, als sie sah, dass auch ihr Gepäck fehlte. Trotzdem lief sie hinauf ins Krankenhaus.
»Sie sind abgeholt worden«, sagte eine weinende Pflegerin. »Wahrscheinlich haben sie die geforderte Zahl nicht zusammenbekommen und deshalb Doktor Sigel und Marek einfach abgeholt.«
Hanna ging wie betäubt zurück und legte sich auf ihre Pritsche. Ein paar Tage lang blieb sie liegen, unfähig, etwas zu sagen. Sogar unfähig zu weinen.
Vierzehntes Kapitel
M an darf sich nicht gehen lassen«, sagte Mira laut. »Sich gehen zu lassen, das ist das Schlimmste, was man machen kann. Man muss arbeiten und zusehen, dass man etwas zu essen bekommt, sonst ist alles aus. Sonst wird man ein Opfer des Hungers – und Hunger tötet alle Gefühle.«
»Nicht nur die Gefühle«, sagte Rachel. Auch ihre Stimme klang ungewöhnlich laut. »Hunger tötet auch die Gedanken. Es ist, als würde sich der ganze Körper auf den leeren Magen konzentrieren, als würde alles Blut zum Magen strömen und das Gehirn würde leer werden und vertrocknen. Da kann man genauso gut gleich sterben.«
»Hör auf mit dem Quatsch«, fuhr Mira sie an. »Man muss kämpfen. Aufgeben gilt nicht. Das Leben geht weiter.«
Was für ein Leben?, dachte Hanna. Das nennst du Leben? Sie lag auf ihrer Pritsche, die Arme im Nacken verschränkt, und starrte hinauf zu den grauen Brettern, die ihren kleinen
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