Ein Buch für Hanna
privaten Raum nach oben begrenzten. Sie beteiligte sich nicht an dem Gespräch, das Mira und Rachel auf der Pritsche unter ihr führten, aber sie konnte ihre Ohren nicht gegen das verschließen, was ihre Freundinnen sagten. Sie wusste, dass die Worte für sie bestimmt waren, die beiden sprachen absichtlich so laut. Mira und Rachel hatten vergeblich versucht, mit ihr zu sprechen, jetzt wendeten sie einen Trick an.
Hanna schloss die Augen. Sie wollte keinen billigen Trost, noch nicht einmal von Mira. Für Mira ist alles einfach, dachte sie, Aufgeben gilt nicht. Für Mira ist das eine Art Glaubensbekenntnis, ein Satz, den sie immer wieder sagt, als könnte sie uns durch seine ständige Wiederholung von seiner Wahrheit überzeugen. Für sie mag er vielleicht stimmen, aber für mich nicht unbedingt. Und wieder spürte Hanna die Verlockung, einfach aufzugeben, sich ins Nichts fallen zu lassen, das sie sich wie den grauen Nebel vorstellte, der sie während ihrer Krankheit so gnädig umfangen hatte. Alles vergessen, dachte sie sehnsüchtig, nichts mehr fühlen, damit könnte man sogar den Hunger besiegen. Ihn einfach vergessen.
Trotzdem war es der Hunger, der sie von der Pritsche trieb und dazu brachte, ihr Leben wieder aufzunehmen, zur Arbeit zu gehen, sich vor dem Suppenkessel anzustellen. Sie bewegte sich wie der kleine trommelnde Blechaffe zum Aufziehen, den Helene ihr vor vielen Jahren einmal zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie bewegte sich wie diese Spielzeugfigur, mechanisch angetrieben, gefühllos. Und es war Mira, die sie immer wieder aufzog, wenn sie stehen blieb. Und natürlich der Hunger.
Ihr Hunger wurde schlimmer, als Mira ihre Stelle in der Küche wieder verlor, denn es war ihr doch immer wieder einmal gelungen, eine Kartoffel herauszuschmuggeln, ein Stück Brot. Miras Augen hatten jeden Glanz verloren und ihre Stimme jeden Klang, als sie ihnen die schlechte Nachricht mitteilte. Man hatte sie nicht beim Essenschmuggeln erwischt, der Aufseher hatte ihr einfach gesagt, sie solle sich etwas anderes suchen, ohne einen Grund anzugeben. »Vermutlich hat irgendeine Frau, eine mit Beziehungen, diese Arbeit gewollt«, sagte Mira bitter.
Natürlich waren sie nicht die Einzigen, die hungerten. Alle Bewohner Theresienstadts litten Hunger, wenn sie nicht in der Küche, bei der Essenausgabe oder im Brotmagazin arbeiteten. Wenn Hanna durch die Straßen lief, auf dem Weg zur Arbeit und wieder zurück, erkannte sie die Privilegierten sofort. Sie bewegten sich schneller als die anderen, sie hatten nicht diese aufgetriebenen Bäuche, ihre Augen lagen nicht so tief in den Höhlen und ihre Wangen waren nicht so eingefallen wie die der anderen Häftlinge, die einander immer ähnlicher wurden. Diese plötzliche Erkenntnis erschreckte sie.
Am Abend, als sie in der Schlange vor dem Waschraum standen, sagte sie: »Habt ihr auch schon bemerkt, dass der Hunger alle Menschen aussehen lässt wie Geschwister? Nur die ganz Alten und die Kinder kann man noch unterscheiden, bei allen anderen muss man sehr genau hinschauen, um jemanden zu erkennen.«
»Ja«, sagte Rosa. »Und ob es Männer oder Frauen sind, sieht man nur an der Kleidung. Die Frauen haben keinen Busen mehr, alle sind gleich flach.«
»Stimmt«, sagte Mira und strich sich über die Brust.
Einen Moment lang sah Hanna die Mira von früher vor sich, die blühende, üppige Schönheit. Doch das Bild wurde sofort wieder von Miras magerer, knabenhafter Gestalt verdrängt.
Rachel stieß ihr neues Lachen aus, ein kurzes Auflachen, bei dem Hanna nie wusste, ob es ein höhnisches oder verzweifeltes Lachen war. »Da muss ich ja froh sein, dass ich etwas habe, woran man mich leicht erkennt«, sagte sie und berührte mit der rechten Hand ihre linke Schulter.
»Hört doch auf«, rief Bella und fing an zu weinen.
Hanna tat es leid, überhaupt etwas gesagt zu haben. Sie schwieg, und auch die anderen schwiegen, bis sie an der Reihe waren und sich mit dem eiskalten Wasser wuschen, notdürftig und hastig, denn die Schlange der wartenden Frauen war lang.
Der Hunger bestimmte ihr Leben, bestimmte ihre Gedanken und ihre Gespräche. Angeblich konnte man sich zusätzliche Lebensmittel besorgen, es gab viele sogenannte faule Geschäfte, aber dazu musste man entweder Geld oder Schmuck ins Lager geschmuggelt haben oder man musste über Beziehungen zu irgendwelchen einflussreichen Personen beim Ältestenrat verfügen. Hanna und ihre Freundinnen hatten weder das eine noch das andere, und Mira
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