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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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hätte ihnen auch nie erlaubt, etwas Gefährliches zu tun. Jeder, der bei solchen faulen Geschäften erwischt wurde, landete ohne Pardon in der Kleinen Festung, dem Straflager, das nicht weit von Theresienstadt lag und das man von den Wällen aus sehen konnte. Den Gerüchten zufolge überlebten Juden eine strafweise Überführung in die Kleine Festung oft nur wenige Tage.
    Hanna, Mira, Rachel, Bella und Rosa gehörten zu denen, die mit den offiziellen Rationen auskommen mussten, so lange jedenfalls, bis etwas geschah, was Hanna im Nachhinein immer »das Wunder« nennen sollte.
    Sie war auf dem Weg von der Kleiderkammer nach Hause, es war schon dämmrig, ein grauer Himmel hing über Theresienstadt. Da fiel ihr plötzlich ein Mantel auf, der ihr seltsam bekannt vorkam, ein hellblauer Mantel mit einem dunkelblauen Samtbesatz. Die junge Frau, die ihn trug, kam langsam auf sie zu. Wo hatte sie solch einen Mantel schon einmal gesehen? Ohne den Mantel wäre Hanna an der Frau vorbeigelaufen, doch nun wanderte ihr Blick hinauf zu dem blassen, schmal gewordenen Gesicht. Und plötzlich wusste sie, wer es war. »Sarah!«, schrie sie, »Sarah!«
    Die andere schaute sie an, erstaunt, nicht verstehend. »Ich bin’s, Hanna«, rief Hanna, »erkennst du mich nicht?«
    Sarahs Gesicht erhellte sich. »Hanna! Ach, ich bin so froh, dich zu sehen. Ich habe mich so oft gefragt, wo du wohl bist.«
    Hanna hatte während der ganzen Zeit in Theresienstadt nicht mehr an Sarah und ihre Eltern gedacht, sie waren so weit entfernt gewesen wie ihr ganzes vorheriges Leben. Jetzt empfand sie eine solche Freude, eine solche Erleichterung, dass es ihr unbegreiflich war, wie sie Sarah hatte vergessen können, Sarah, ihre schöne Mutter, ihren Vater und ihren Bruder Samuel mit seiner Geige.
    »Sarah«, sagte sie, »ach, Sarah.«
    Die beiden Mädchen umarmten sich lange. Sie standen mitten auf der übervollen Straße und konnten sich nicht loslassen. Sie wurden geschoben und gestoßen, aber das war ihnen egal. Sie weinten, von Freude überwältigt.
    Dann, endlich, ließ Hanna die Arme sinken. Sie schob Sarah ein Stück von sich weg und betrachtete sie. »Wie geht es deinen Eltern?«
    Auch Sarah betrachtete Hanna, als sähe sie sie zum ersten Mal. »Ich bin mit meiner Mutter zusammen«, sagte sie schließlich. »Mein Vater und mein Bruder sind in einem Männerblock. Aber sie leben und wir treffen uns oft. Komm mit zu meiner Mutter, sie wird froh sein, dich zu sehen. Sie hat oft nach dir gefragt.«
    Hanna lief neben Sarah her, noch immer ganz durcheinander und zugleich beschwingt, als wäre nach wochenlangem Regen plötzlich die Sonne hinter den Wolken hervorgekommen. Als sie den Saal betraten, in dem Frau Hvid an einem Tisch saß und irgendein Kleidungsstück flickte, traf der Anblick der Frau Hanna wie ein Schlag, und sie musste ihre ganze Beherrschung aufbieten, um ihr Erschrecken zu verbergen. Sie hätte Frau Hvid nicht erkannt, wenn Sarah nicht gesagt hätte: »Schau mal, Mama, wen ich auf der Straße getroffen habe. Hanna, Hanna Salomon.«
    Nichts war von der schönen Dame übrig, ihr Gesicht war eingefallen, sie sah um Jahre gealtert aus, und ihre Augen waren gerötet, mit entzündeten Lidrändern, wie die Augen ihrer Mutter früher ausgesehen hatten. Aber ihr Lächeln war so warm und freundlich wie früher. Sie streckte die Hände aus, zog Hanna auf den Stuhl neben sich und streichelte ihre Haare. Auch ihre Finger waren zittrig wie die einer alten Frau. »Ich bin krank«, sagte sie entschuldigend. »Es sind meine Nerven.«
    »Die Wolldecke und die beiden Pullover, die Sie mir gegeben haben, als wir abgeholt wurden, haben mir sehr geholfen«, sagte Hanna, »vielen Dank.« Etwas anderes fiel ihr nicht ein. Sie wollte nicht zeigen, wie sehr sie die Veränderung erschütterte, die mit der Frau vor sich gegangen war.
    Sie beantwortete die Fragen, die Sarah und ihre Mutter ihr stellten, erzählte, dass sie gleich nach ihrer Ankunft am Bahnhof von Bauschowitz vier ihrer Freundinnen gefunden hatte, wo sie lebten, was sie arbeiteten. Allmählich fand sie ihre Fassung wieder.
    »Warum kommst du nicht zu uns?«, sagte Frau Hvid. »Hier im Block sind fast nur Däninnen, hier würde es dir besser gehen. Und bei uns bist du auch sicher.«
    »Warum?«, fragte Hanna und wagte nun erst, die alte Frau, die neben ihr saß, richtig anzuschauen.
    »Ist dir noch nicht aufgefallen, dass Dänen nicht zu Transporten aufgerufen werden?«, fragte Frau Hvid.
    »Nein«, sagte

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