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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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schon lange nicht mehr gesehen hatten, zum Beispiel Hartwurst. Für ein Stück Hartwurst konnte man alles eintauschen, auch Brot. Und für eine Tüte Milchpulver bekamen sie eine Woche lang jede eine zusätzliche Portion Suppe. Nun gehörten auch sie zu den Privilegierten.
    Sie durften sogar Karten nach Dänemark schreiben, offene Karten mit wenig Text, der natürlich zensiert wurde, trotzdem war Hanna hingerissen von der Vorstellung, ein Lebenszeichen verschicken zu dürfen. Sie überlegte lange, an wen sie schreiben könnte. Bente war Analphabetin, aber der Bauer würde ihr die Karte bestimmt vorlesen. Sie schrieb auch an Jesper und Marie Sørensen. Eigentlich glaubte sie nicht wirklich, dass die Karten Dänemark je erreichen würden, aber das war ihr auch nicht so wichtig. Wichtig war nur, dass sie das Gefühl hatte, nicht mehr von ihrem früheren Leben abgeschnitten zu sein.
    Eine Zeit lang arbeitete Hanna in einem Kinderheim. Es war eine Arbeit, die ihr gut gefiel, auch wenn sie mit den Kindern nicht viel anfangen konnte. Sie sprachen Tschechisch, soweit sie überhaupt schon alt genug waren, um sprechen zu können. Hanna war erst nur zum Putzen eingeteilt, aber nach ein paar Tagen durfte sie bei den Säuglingen helfen, beim Füttern und Wickeln. Sie hatte noch nie mit kleinen Kindern zu tun gehabt, sie wunderte sich über die Rührung, die sie beim Anblick der kleinen Finger und Zehen empfand, bei dem zufriedenen Glucksen, das die Kleinen ausstießen, wenn sie satt waren, bei dem Lächeln, das plötzlich ihre Gesichtchen erstrahlen ließ. Sie erinnerte sich an die Rührung, die sie immer bei neugeborenen Tieren empfunden hatte, sogar bei Ferkeln, und erkannte, dass kleine Menschen sie noch viel mehr ergriffen und eine Zärtlichkeit in ihr weckten, von der sie nichts gewusst hatte.
    Sie freute sich jeden Morgen schon beim Aufwachen auf die Arbeit. Aber es dauerte keine drei Wochen, da fand sie eines Tages das Kinderheim leer. Geräumt. Alle Kinder waren mit einem Transport in den Osten geschickt worden.
    Hanna stand da, hilflos, wie betäubt. Sie hätte später nicht sagen können, wie sie den Tag verbracht hatte, erst als sie abends mit ihren Freundinnen zusammensaß, brach die Verzweiflung aus ihr heraus. »Sie können doch keine kleinen Kinder umbringen, oder?«, sagte sie. »Das kriegt doch kein Mensch übers Herz.«
    »Herz«, sagte Rachel bitter und berührte ihre schiefe Schulter. »Herz! Du glaubst doch wohl nicht, dass die ein Herz haben.«
    Und Bella sagte: »Warum nicht kleine Kinder? Was unterscheidet kleine Kinder von alten Leuten?«
    Dass die Alten schon ein Leben gehabt haben, wollte Hanna sagen, aber sie verschluckte die Worte. Es war ein dummes Argument, denn einen Menschen zu töten war ein Verbrechen, egal wie alt der Mensch war.
    »Und wir kommen auch noch dran«, hörte sie Rosa sagen. »Irgendwann sind auch wir an der Reihe.«
    »Hört auf, so zu reden«, sagte Mira. Sie holte ein paar Scheiben Zwieback aus ihrem Versteck und verteilte sie. »Die Befreiung kommt näher, die Russen sind schon kurz vor der polnischen Grenze und die Amerikaner und die Engländer sind in Frankreich gelandet. Wir müssen durchhalten, es kann nicht mehr so lange dauern. Aufgeben gilt nicht.«
    »Woher weißt du das alles?«, fragte Rachel. »Hier gibt es doch nichts, weder Radio noch Zeitung.«
    Mira zuckte mit den Schultern. »Eine Frau hat es mir erzählt, und die weiß es von einer Neuen, die bis vor Kurzem noch untergetaucht war.«
    Dann schwiegen sie. Sie aßen ihren Zwieback und taten, als würden sie es genießen. Aber Hanna wusste, dass die anderen an die Kinder dachten, genau wie sie.
    Immer neue Menschen kamen nach Theresienstadt, aber mindestens ebenso viele verließen das Lager. Die gefürchteten Transporte in den Osten nahmen zu, vor allem ältere Menschen standen auf den Listen, die nun fast täglich herausgegeben wurden. Manche von ihnen waren schon so schwach, dass sie es nicht allein zum Sammelplatz vor der Schleuse schafften. Hanna wurde dazu eingeteilt, ihnen zu helfen.
    Sie bekam eine Liste mit den Namen von hilfsbedürftigen Leuten und suchte sie in ihren Quartieren auf. Manche waren schon so verwirrt, dass sie überhaupt nicht mitbekamen, was ihnen bevorstand, anderen sah man an, dass sie Bescheid wussten, aber alle fügten sich stumm in ihr Schicksal. Sie wollen nicht auffallen, dachte Hanna und meinte die Stimme ihrer Mutter zu hören: »Ein jüdisches Kind darf nicht auffallen.« Und zum

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