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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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ersten Mal zweifelte sie daran, ob ihre Mutter recht hatte.
    Hanna packte die Koffer und Bündel der Unglücklichen und führte sie, wenn sie noch gehen konnten, langsam zum Sammelplatz. Dabei trug sie die Koffer und Bündel ihrer Schützlinge und redete beruhigend auf sie ein, bemühte sich, ihnen Mut zuzusprechen. Für diejenigen, die besonders schlecht zu Fuß waren, besorgte sie einen Karren.
    Bei den ersten Malen konnte sie den Menschen kaum ins Gesicht schauen, aus Angst, sie würden ihr ansehen, was sie dachte, und auch aus Angst, sie könnten selbst von den Gerüchten anfangen, die immer wieder zu hören waren. Aber das geschah nicht, die alten Leute ließen alles folgsam und geduldig mit sich geschehen. Wie Lämmer, die zum Schlachten geführt werden, dachte Hanna. Manchmal hätte sie sie am liebsten geschüttelt und sie angefahren: Warum schreit ihr nicht? Warum lasst ihr es euch gefallen? Schreit! Wehrt euch! Doch wenn sie die traurigen und hoffnungslosen Gesichter sah, verschluckte sie ihre Worte und bemühte sich, ihnen durch Freundlichkeit den Abschied zu erleichtern. Sie gewöhnte sich an diese Arbeit, erledigte ihre Aufgabe, ohne viel nachzudenken.
    Nur ein Tag war sehr schlimm. Sie traf in einer Ubikation ihren früheren Kinderarzt aus Leipzig. Sie wunderte sich, dass sie ihn sofort erkannte, obwohl sie große Schwierigkeiten hatte, sich das Gesicht ihrer Mutter vorzustellen. Vermutlich lag es an seiner Kleinwüchsigkeit und dem auffallend großen Schädel. Er sah dünn und zerbrechlich aus, aber sie erinnerte sich, dass er auch früher dünn gewesen war.
    »Herr Doktor Bornstein«, sagte sie. »Kennen Sie mich noch?«
    Er schaute sie erstaunt an, zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte den Kopf. »Nein, tut mir leid.«
    »Hannelore Salomon aus Leipzig«, sagte sie. »Sie waren unser Arzt. Sie haben meine Schwester Helene und mich behandelt, wenn wir krank waren.«
    Sein Gesicht hellte sich auf. Er lächelte und ergriff ihre Hand. »Hannelore«, sagte er. »Hannelore und Helene Salomon. Ich weiß noch, wie ihr einmal beide zusammen im Bett gelegen habt. Du hattest irgendeine Kinderkrankheit, Masern, glaube ich, und Helene ein gebrochenes Bein.«
    Hanna hob die Schultern. »Daran erinnere ich mich nicht.«
    »Du warst noch klein«, sagte Doktor Bornstein. »Wo bist du die ganzen Jahre gewesen? Und wo ist Helene?«
    »Helene heißt jetzt Lea und lebt in Palästina, in einem Kibbuz«, sagte Hanna. »Und ich war während der letzten Jahre in Dänemark. Dort haben sie mich geschnappt.« Sie hätte gern gefragt, ob er etwas von ihrer Mutter gehört habe, tat es aber nicht, denn ihre Angst vor dem Wissen war größer als ihre Angst vor dem Nichtwissen. Deshalb sagte sie nur: »Ich bin gekommen, um Ihnen beim Packen zu helfen.«
    »Das ist nicht nötig«, sagte er, »ich habe schon gepackt. Aber es wäre schön, wenn du mir beim Tragen helfen könntest.«
    Als sie nebeneinander die Straße entlanggingen, sagte er: »Du bist groß geworden, Kind.«
    Das stimmte, sie überragte ihn um mindestens eine Kopflänge. Sie war verwirrt, er tat ihr so leid. Wenn man jemanden kennt, ist es viel schlimmer, dachte sie, und aus Angst, etwas Falsches zu sagen, fing sie mit ihrem üblichen Gerede an, vielleicht sei ja alles viel besser dort, wohin er gebracht würde, schlechter könne es schließlich kaum werden, doch er hob abwehrend die Hand und sagte: »Hör auf, Hannelore. Ich mache mir nichts vor. Ich habe mir noch nie etwas vorgemacht und ich werde ganz bestimmt jetzt nicht damit anfangen.«
    Sie schwieg. Vor der Schleuse standen schon viele Menschen mit ihrem Gepäck. Sie suchte für ihren Schützling einen Platz an der Mauer, wo er sich zum Warten auf seinen Koffer setzen konnte, und dann rutschte ihr die Frage doch noch heraus: »Herr Doktor Bornstein, wissen Sie etwas von meiner Mutter?«
    Er räusperte sich, wandte den Kopf zur Seite und sagte, ohne sie anzuschauen: »Ich glaube, sie ist mit ihrer Kusine zusammen an einen unbekannten Ort umgesiedelt worden.« Er legte die Hand auf ihren Arm. »Tut mir leid, Kind.«
    Hanna brachte kein Wort heraus. Sie nickte ihm zu, dann drehte sie sich schnell um und lief zurück. Es gab noch mehr alte Leute, denen sie helfen musste.
    Der Winter kam und es wurde kalt. Noch nie hatte Hanna eine derartige Kälte erlebt. Im letzten Winter hatte sie die meiste Zeit im Krankenhaus verbracht. Dort war es zwar auch kalt gewesen, aber lange nicht so eisig wie hier. Die

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