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Ein Bündel Geschichten für lüsterne Leser

Ein Bündel Geschichten für lüsterne Leser

Titel: Ein Bündel Geschichten für lüsterne Leser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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gefaltet, sein kalkweißes Gesicht war die Verkörperung von Hartnäckigkeit und Entschlossenheit. Schließlich musste Vernon nachgeben.
    »Nehmen Sie Platz, Mr. Blesker«, sagte er müde und deutete auf den Ledersessel in seinem Büro. »Ich weiß, warum Sie hier sind; mein Telefon geht den ganzen Vormittag: vier Zeitungen, ein Jugendfürsorger und sogar eine Firma. Was haben Sie eigentlich aufgezogen – eine ganze Organisation?«
    Der alte Mann wirkte verstört. »Bitte«, sagte er. »Ich komme nur wegen meines Jungen...«
    »Ich weiß; schließlich lese ich Zeitung. Und wahrscheinlich sind Sie der Ansicht, dass Ihr Sohn unschuldig ist?«
    »Das ist er!«
    »Natürlich. Sie sind der Vater. Haben Sie mit ihm gesprochen, seit es passiert ist?«
    »Ich komme gerade aus dem Gefängnis. Er wird nicht gut behandelt. Mager ist er geworden.«
    »Er befindet sich erst seit wenigen Tagen in Haft, Mr. Blesker. Ich bezweifle, dass man ihn hungern lässt. Hören Sie zu«, sagte Vernon mürrisch. »Ihr Sohn wird beschuldigt, einen anderen Jungen auf der Straße erstochen zu haben. Das zumindest ist passiert. Wissen Sie, wie viele Zeugen es dafür gibt? Kennen Sie die Beweise, die der District Attorney besitzt?«
    »Ich weiß nur, dass er unschuldig ist«, sagte der alte Mann. »Mehr weiß ich nicht. Benjy ist ein guter, ernsthafter Junge.«
    »Sicherlich«, erwiderte Vernon mit gerunzelter Stirn. »Jeder ist ein netter Junge, Mr. Blesker, bis er anfängt, sich mit irgendwelchem Pack auf der Straße herumzutreiben. Dann sind sie auf einmal völlig verändert.« Fast brüllte er jetzt. »Mr. Blesker, das Gericht wird Ihrem Sohn einen Anwalt stellen. Mich brauchen Sie also nicht.«
    »Ich habe Geld«, flüsterte Blesker. »Die Familie – wir alle legen zusammen. Ich habe ein Heizölgeschäft; ich werde den großen Tankwagen verkaufen. Ich kann zahlen, was Sie verlangen, Mr. Wedge.«
    »Es ist nicht eine Frage des Geldes...«
    »Sondern?« Der alte Mann wurde plötzlich wild. »Ob er schuldig ist oder nicht? Haben Sie das bereits entschieden, Mr. Wedge? Nach dem, was in den Zeitungen gestanden hat?«
    Vernon konnte dieser Herausforderung nicht ausweichen, denn dazu kam sie der Wahrheit viel zu nahe. Er hatte sich tatsächlich aus den Zeitungsartikeln bereits ein Urteil über diesen Fall gebildet, und nach allem, was er wusste, war dies ein Klient, den er nicht unbedingt zum Leben brauchte. Dazu war sein Ruf zu gut. Hinzu kam noch, dass er seinen letzten Klienten an Ossining verloren hatte. Jeder Strafverteidiger kann es sich leisten, dass in einigen Prozessen gegen ihn entschieden wird – aber zweimal hintereinander?
    »Mr. Blesker«, sagte er unglücklich, »wollen Sie mir bitte erzählen, warum Sie hierhergekommen sind? Warum haben Sie ausgerechnet mich ausgesucht?«
    »Weil ich gehört habe, dass Sie gut sind.«
    »Wissen Sie, was in meinem letzten Prozess passiert ist?«
    Störrisch: »Ich habe gehört, dass Sie sehr gut sind, Mr. Wedge.«
    »Jedem Reporter in dieser Stadt haben Sie bereits erzählt, dass Sie die Absicht hätten, mich zu nehmen. Das bringt mich in eine äußerst kompromittierende Lage, verstehen Sie das? Sie übrigens auch. Merken Sie nicht, wie schlecht es aussehen wird, wenn ich die Sache ablehne? Als wäre ich überzeugt, dass Ihr Sohn schuldig ist, dass der ganze Fall hoffnungslos ist.«
    »Ich habe mir nichts dabei gedacht«, sagte der alte Mann einfältig. »Ich wollte nur für Benjy das Beste.« Seine Augen füllten sich langsam mit Tränen. »Übernehmen Sie bitte den Fall, Mr. Wedge.«
    Vernon wusste, ob eine Sache verloren war, sobald er sie sah; vielleicht hatte er von Anfang an gewusst, wie diese Unterhaltung enden würde. Seine Stimme wurde sanfter.
    »Ich habe nicht gesagt, dass Ihr Sohn schuldig ist, Mr. Blesker. Ich habe lediglich gesagt, dass seine Sache sehr schlecht steht. Ausgesprochen schlecht.«
    Regungslos wartete der alte Mann.
    »Na schön«, sagte Vernon seufzend. »Ich will es mir überlegen.«
    Im Polizeiregister wurde das Alter von Benjy Blesker mit siebzehn Jahren angegeben. Er sah jünger aus. Die entsetzten Augen verliehen ihm einen Ausdruck jugendlicher Verwirrung. Aber Vernon ließ sich dadurch nicht täuschen; er hatte bereits zu viele eiskalte Mörder mit unschuldigen Kindergesichtern gesehen.
    Die Zelle des Jungen war sauber, und Benjy zeigte keine Spuren schlechter Behandlung. Er saß auf dem Rand seiner Pritsche und knetete die Finger. Als Vernon hereinkam, bat er um

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