Ein Cottage zum Verlieben: Roman (German Edition)
seinem Vater. Damals wurden die Berufe noch an die nächste Generation weitergegeben.«
Einen Augenblick lang muss ich an Chris Taylor denken. Ist er der Nachfahre eines echten Schneiders? Zumindest würde dies sein Interesse für Mode erklären!
»Die Geschichte der Mode, der inneren Architektur …«
Meint sie vielleicht die Innenarchitektur? Möglicherweise bezeichnen die Deutschen es als ›innere Architektur‹? Mir jedenfalls gefällt dieser Name! Er klingt so viel größer und wichtiger als das schnöde Wort ›Innenarchitektur‹.
»Unsere Sozialgeschichte ist die Geschichte von Menschen; es ist eine Geschichte, die in vielen Fällen von Frauen gestaltet wurde. Darum geht es hier auch um die Geschichte von Frauen.« Diese Aussage scheint hinten im Saal für ein wenig Aufruhr zu sorgen, doch Hannelore lässt sich nicht beirren. »Geschichten aus dem Leben der Menschen werden als Zeitgeist bezeichnet.«
Es dauert einen Moment, bis mir wieder einfällt, wie ich meinen Schülern den Begriff Zeitgeist erkläre. Normalerweise beschreibe ich es als die Anzeichen einer bestimmten Zeit.
»Dabei handelt es sich aber nicht nur um die Geschichte von Frauen!«, ertönt eine mir vertraute Stimme aus der letzten Sitzreihe. Ich drehe mich um und entdecke Chris in seinem berühmt-berüchtigten Paisleyhemd, das er interessanterweise mit Zierstichen und Applikationen individuell gestaltet hat.
»Ich nähe zum Beispiel mit Gummiband aus Unterhosen«, erklärt er. »Das kann man dehnen, verbiegen und manipulieren. Das finde ich hochspannend. Nähen ist Zeitgeist!« Wäre das eigentlich jetzt der geeignete Moment, um aufzuspringen und zu gestehen, dass ich mein Haar mit einem schwarzen Schlüpfer zusammengebunden habe? Besteht zwischen Chris und mir eine Art Synchronismus?
Der Wachmann läuft auf Chris zu.
»Würden Sie gern nähen?«, fragt Chris ihn höflich.
»Sie sollten eine Frau haben, die das gern tut«, entgegnet der Wachmann.
Hannelore hüstelt theatralisch. »Etwas Physisches zu haben, aus dem heraus sich eine Idee entwickelt, ist schlichtweg interessanter als nur eine Idee, aus der etwas Physisches hervorgeht«, erklärt Hannelore. »Und natürlich beschreibt mein Landsmann, der große Philosoph Nietzsche, geradezu ekstatische Zustände des Singens und Tanzens und erklärt, wie Menschen selbst ein Kunstwerk werden können, anstatt allein Beobachter zu bleiben. Wenn Nietzsche die Möglichkeit gehabt hätte zu nähen, dann hätte er dies auch getan.«
Das Publikum applaudiert ihr. Ich schaue mich verstohlen um und sehe, wie einige Zuhörer mit dem Kopf nicken, während andere einfach nur verwirrt zu sein scheinen. Ich selbst verspüre eine unglaubliche innere Aufregung; hier in Norfolk, und nicht etwa in London passieren die wirklich interessanten Dinge.
Allmählich wird meine Überzeugung immer größer, dass Nähen – und damit auch mein Nähen – wichtig ist. Für den Bruchteil einer Sekunde frage ich mich sogar, ob Chris’ Ausbruch nicht ein sorgsam vorbereiteter Werbetrick war, um einerseits die Buchverkäufe in die Höhe zu treiben und andererseits Chris’ Namen wieder in die Presse zu bringen.
»Nostalgie ist heutzutage weit verbreitet«, fährt Hannelore fort, deren Stimme unsere Aufmerksamkeit fesselt. »Wir hängen stark an unserer Vergangenheit. Beim letzten Weihnachtsfest hat eine große Supermarktkette, deren Name ich nicht nennen möchte, Tausende von Hirtenkostümen verkauft, die einen gewissen Look des Selbstgemachten nachahmten. Sie wissen schon, mit einem Geschirrtuch als Imitation einer Kopfbedeckung.« Ich sehe, wie Liz eifrig in ihr Notizbuch kritzelt.
»Sind diese Kostümkäufe also als Möglichkeit für Mütter zu bewerten, um Zeit zu sparen? Ich denke nicht. Es geht hierbei vielmehr darum, ein Stück der eigenen Vergangenheit, die Erinnerungen aus jüngster Kindheit, wiederzubeleben, dabei aber den Machungsprozess zu umgehen.«
Meint sie etwa den »Entstehungsprozess«? Vielleicht hätte Hannelore angesichts der vielen komplizierten Wörter die Rede doch besser von einem Manuskript ablesen sollen?
»Auf diese Art und Weise kommt man schnell zu einem Ergebnis. In Sekundenschnelle. Wenn also das Hirtenkostüm eines Kindes uns so viel verraten kann, sollten wir über den Stellungswert unserer Nähprojekte nachdenken.«
»So ist’s recht! Ganz richtig!«, ruft René aus der Zuschauermenge.
»Das Nähen ist Teil eines Entschleunigungsprozesses .« Hannelore nickt Nicole zu, die
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