Ein delikater Liebesbrief
Zudem waren seine Wangenknochen die eines reinblütigen Engländers, ebenso seine Augen.
Es war ein Jammer, dass sie ihm ihr Gebrechen offenbaren musste, doch wenn er tatsächlich vorgehabt hatte, ihr den Hof zu machen, würde er ohnehin von vermeintlich wohlmeinenden Menschen über ihre schlimme Hüfte aufgeklärt werden. Sie hatte seinen abschätzenden Blick bemerkt, als sie anbot, ihm bei der Einstellung eines Kindermädchens behilflich zu sein, und er hatte sicherlich bereits in Erfahrung gebracht, dass sie eine reiche Erbin war. Wie praktisch für ihn, eine reiche Erbin und gute Mutter in einer Person zu finden! Selbstverständlich war es richtig gewesen, ihn von seinem Irrtum zu befreien. Henrietta wollte nicht, dass die Klatschtanten sich über sie die Mäuler zerrissen.
Natürlich hatte er ihr den Hof gemacht. Bei der Erinnerung, wie er kehrtgemacht und an ihren Tisch getreten war, musste sie lächeln. Und wie er mit Lucy Aiken im Schlepptau zurückgekommen war und ihr dann eine Platte mit Rebhuhn geholt hatte. Wie er ihre Hand gehalten hatte.
Seit Jahren beobachtete Henrietta die Balzgewohnheiten von Frauen und Männern, hatte jedoch nie am eigenen Leibe erfahren, welch angenehmes Gefühl es war, den Blick eines Mannes auf der anderen Seite des Zimmers aufzufangen und zu spüren, dass er sie begehrte. Und nicht den Blick irgendeines Mannes, sondern eines Londoner Gentlemans. Nach einem gewissen Lord Fastlebinder, der vor über einem Jahr Wiltshire mit seinem Besuch beehrt hatte, einen Monat geblieben war und Mrs Pidcocks Hausmädchen verführt hatte, war hoher Besuch aus der Stadt rar gewesen. Außerdem war Fastlebinder in Henriettas Augen ein dicker hässlicher Mann gewesen. Aber Darby stellte alle Männer im Umkreis in den Schatten.
Mrs Pidcock hatte sich persönlich zu ihr bemüht und in scharfem Flüsterton gefragt: »Was hat Mr Darby heute Nachmittag nur mit Ihnen zu reden gehabt, Lady Henrietta? Ich sähe es gar nicht gern, wenn Sie sich falsche Hoffnungen auf einen Londoner Mitgiftjäger machten. Denn genau das ist er.« Womit sie Henrietta indirekt darauf hingewiesen hatte, dass Darby nichts von ihrem Gebrechen wusste, sonst würde er niemals seine Zeit damit verschwenden, um sie zu werben.
Henrietta hatte ihrer Nachbarin den Arm getätschelt und ihr im Vertrauen mitgeteilt, dass Mr Darby ihrer Meinung nach ein Auge auf Lucy Aiken geworfen hatte.
Dennoch konnte Henrietta nicht aufhören zu lächeln, weil Darby sie tatsächlich als Ehefrau in Betracht gezogen hatte. Warum sonst hätte er ihr Komplimente machen sollen? Warum sonst an ihrem Tisch verweilen? Warum hätte er über ihr Haar und ihre Symmetrie sprechen und ihre Hand halten sollen? Warum sie mit diesem leichtsinnigen Grinsen anschauen, als ob er darüber nachdächte …
Einen Augenblick lang spürte Henrietta, wie die Verzweiflung jüngerer Jahre sie überkam. Es war die betäubende Sehnsucht, normal zu sein, wie die anderen zu sein. Ein Mädchen zu sein, das heiraten und Kinder bekommen konnte, ohne dafür mit seinem Leben zu bezahlen.
Doch Henrietta hatte schon früh gelernt, solche Gedanken beiseitezuschieben, und sie tat es auch jetzt. Das war nicht der Punkt. Vielmehr ging es ihr darum, dass sie einem wirklich anziehenden Mann begegnet war, der nichts von ihrem Gebrechen gewusst hatte – und der sie umworben hatte. Da sie ihr ganzes Leben in Limpley Stoke verbracht hatte, wo jedermann wusste, dass Henrietta Maclellan nicht heiratsfähig war, stellte dies eine völlig neue Erfahrung dar. Und neue Erfahrungen, so wagte sie sich schüchtern einzugestehen, waren in jedem Fall immer nützlich.
Sie trat ans Fenster, doch die sorgfältig gepflegten Rasenflächen von Holkham House lagen im Dunkel der Nacht. Sollte Darby eines Tages ernsthaft um eine Frau werben, so würde diese das glücklichste Geschöpf auf der Welt sein. Er hatte so schöne Augen, die ihr etwas zu sagen versuchten; nur glaubte Henrietta diesen ganzen Unsinn nicht. Aber falls er doch um sie warb …
Im Laufe der Jahre hatten einige ihrer Freundinnen Liebesbriefe bekommen, üblicherweise die Vorboten zu einem formellen Heiratsantrag. Ein Brief aus der Hand Mr Darbys würde gewiss viel eleganter und geistreicher sein als die stümperhaften Episteln eines Gentlemans aus Wiltshire. Darby würde einen Brief schreiben, der romantisch und flehentlich und …
Nein, das hatte er nicht nötig. Dazu sah er viel zu gut aus. Sicher war er es gewöhnt, dass Frauen sich ein Bein
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