Ein delikater Liebesbrief
genannt –, weil der Boden seine Hose staubig gemacht hat, aber ich kann jetzt selber ein Bataillon aufstellen. Tante Esme ist auch zum Spielen gekommen, aber sie kann nicht auf dem Boden knien, weil ihr Bauch im Weg ist.«
Henrietta vertrieb einen Anflug von Neid angesichts Esmes schwellenden Leibs und lächelte dem kleinen Mädchen ermunternd zu. Es war geradezu unheimlich, wie sehr Josie ihrem älteren Bruder ähnelte.
»Hast du gewusst, dass dein Haar genau die Farbe von Herbstlaub hat, Josie?«
Es war Josie ziemlich gleichgültig. »Möchten Sie gern meine Soldaten sehen, Lady Henrietta? Ich kann Ihnen zeigen, wie mein Bruder Simon die Bataillone aufgestellt hat.«
»Du sollst doch ›Henrietta‹ sagen«, ermahnte sie die Kleine. Eigentlich wollte sie lieber nichts über ihren Bruder Simon hören. »Mit Soldaten würde ich heute nicht so gern spielen. Wie wäre es, wenn ich dir stattdessen eine Geschichte erzähle?«
Josie war enttäuscht. Sie lechzte förmlich danach, ihre Soldaten in die Schlacht zu schicken. Feine Damen erzählten immer nur langweilige Geschichten über Kätzchen und Handschuhe oder gar Entlein, die Josie nicht sonderlich interessierten.
»Natürlich«, erwiderte sie höflich. Denn wenn Josie glücklich war, konnte sie ein sehr höfliches kleines Mädchen sein.
»Dies ist das Märchen von zwei kleinen Stiefeln, die aus feinstem Kalbsleder gemacht waren«, begann Henrietta und ließ sich auf dem Kaminstuhl nieder. »Sie hatten zwölf kleine Knöpfe und diese Knöpfe waren schokoladenbraun, genau wie dein Haar.«
Immerhin waren die kleinen Stiefel keine kleinen Kätzchen. Josie setzte sich auf ein Sitzkissen zu Henriettas Füßen.
»Ich glaube nicht, dass du dieses Paar Stiefel kennst, Josie, denn sie gehörten keinem Mädchen. Und auch keinem Knaben. Eigentlich gehörten sie niemandem, denn als die Geschichte anfing, hatten sie sich verirrt. Und zwar in einem tiefen dunklen Wald, in dem es viele Schatten und Bäume mit spindeldürren Zweigen gab.«
Josie holte tief Luft. »Wie sind sie denn dahin gekommen?«
»Das weiß niemand. Eines Tages waren sie einfach mitten in diesem dunklen, dunklen Wald.«
Josie erschauerte bei der bloßen Vorstellung.
»Also wanderten die Stiefel einen gewundenen Pfad entlang und weinten …«
»Haben sie wegen ihrer Mama geweint?« Alles, was mit Mamas zu tun hatte, interessierte Josie brennend.
»Ja«, erwiderte Lady Henrietta. »Woher hast du das nur gewusst? Genau deswegen haben sie geweint.«
Im weiteren Verlauf der Geschichte wurden die kleinen Stiefel nass. Sie begannen zu frieren. Eine Eule jagte ihnen Angst ein. Doch schließlich fanden sie ihre Mama, die gleichwohl eine Kuh war, denn die Stiefel waren ja aus feinstem Kalbsleder gefertigt. Und da es ja Winter war, konnte die Mama Kuh ein paar warme Stiefel gut gebrauchen, und alle waren glücklich und zufrieden.
Als die Kuh zum guten Schluss in ihren wunderschönen neuen Stiefeln mit den zwölf schokoladenbraunen Knöpfen über die Wiese tanzte, da lehnte Josie schon längst an Lady Henriettas Knien, vollkommen überwältigt von dem wunderbaren Märchen.
»Noch einmal? Können Sie die Geschichte noch einmal erzählen?«
»Heute nicht«, wehrte Lady Henrietta ab, doch sie lächelte dabei.
In diesem Augenblick betrat Tante Esme die Kinderstube. »Kommen Sie doch morgen zum Tee, Henrietta. Ich werde die Kinder auch dazu in den Salon bitten.«
»Ja, kommen Sie!«, bettelte Josie.
»Für mich wäre es ebenso schön, wenn ich wieder in die Kinderstube kommen dürfte. Wir sollten die Gewohnheiten der beiden vielleicht nicht durcheinanderbringen.«
Esme war jedoch eindeutig Josies Ansicht. »Unsinn«, entgegnete sie lebhaft. »Haben Sie mein Nähkränzchen vergessen? Sie hatten doch zugesagt, mir beim sauberen Einsäumen der Decken zu helfen. Außerdem haben Mr Fetcham und Darby versprochen, vorbeizuschauen und unsere Langeweile zu vertreiben.«
Da Lady Henrietta ganz den Eindruck machte, als wollte sie die Einladung ablehnen, begann Josies Unterlippe zu zittern. Gleich würde sie in Tränen ausbrechen … Doch dann lenkte Lady Henrietta ein und Josie tanzte vor Freude im Kreis herum.
20
Der Garten der irdischen Freuden
Es war Esme unmöglich, den Garten aus ihren Gedanken zu verbannen: Er zog sie an wie der Norden die Kompassnadel. Dort unten ging Sebastian umher und tat … was immer ein Gärtner zu tun hatte. Was taten Gärtner eigentlich im Januar?
Das Bild des korrekten, ja
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