Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
die Kerze sagte sie: »Selbst dann ist Gott da. Selbst bei Sturm und Gewitter. Deswegen der Regenbogen.« Dann machte sie sich am Waschbecken zu schaffen, und sie konnten hören, wie sie Wasser in die silberne Taufschale einlaufen ließ. Nachdem sie die auf einem Rolltischchen neben dem Inkubator stehende Kerze angezündet und Paul einen ebenfalls regenbogenfarbenen Greifling in die kleine Hand gelegt hatte, sah sie sie kurz abwechselnd an und sagte: »So, Paul, jetzt wollen deine Mama und dein Papa dich taufen.« Dabei strich sie ihm zärtlich über den linken Arm, langsam und sacht, die immer gleiche Bewegung, vor und zurück. Und weil sie unfähig gewesen waren, sich auf die Schnelle einen Spruch auszudenken, sagte die Seelsorgerin: »Du bist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Weg. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes taufe ich dich auf den Namen Paul Wilkins.« Anschließend tauchte sie zwei Finger in die Taufschale und strichdem Jungen sacht über die gerötete Stirn. Und nachdem sie das Vaterunser gesprochen und sie beide ebenfalls gesegnet hatte, stellte sie die Taufschale auf den Tisch und begann zu singen, nicht sehr laut, mit geschlossenen Augen: »Ich möchte, dass einer mit mir geht, der’s Leben versteht / der mich zu allen Zeiten kann geleiten / Ich möchte, dass einer mit mir geht.«
Mit vom Weinen geröteten Augen und bis zum Hals hinauf schlagendem Herzen lauschte Amina dem Sprechgesang der Frau. Seiner besonderen Kadenz, so wie man einem tragischen Musikstück lauschte. Ihrem raschen, heiseren Einatmen, dann dem langen stoßweisen Ausatmen. Sie hielt Bertrams Hand und versuchte sich einzureden, dass noch alles gut werden konnte, gut werden musste. Dass sie nicht aufgeben durften zu hoffen.
Nachdem die Seelsorgerin gegangen war und auch die Krankenschwester das Zimmer für einen Moment verließ, schloss Bertram Amina in seine Arme. Und mit Blick auf ihr Kind, das den regenbogenfarbenen Greifling mit seinen winzigen, an von einer Flamme versengte Spinnenbeine erinnernden Fingern umfasst hielt, wiegten sie einander im heruntergedimmten Neonlicht wie zwei unter Schock stehende Unfallopfer.
***
Marc hörte seit ein paar Minuten Ashra, »New Age of Earth« von Manuel Göttsching, starrte in den schwachen, von den quadratischen, gelblich beleuchteten VU-Meter-Anzeigen des AIWA-Verstärkers erzeugten Lichtnebel, der im Zimmer herrschte, und dachte an die in Flammen aufgegangene KTM und an Lenny, der ihm geholfen hatte, die verkohlte Maschine verschwinden zu lassen. Er dachte an den uniformierten Beamten auf der Polizeistation, der ihn einmal kurz fixiert hatte, als hätte er seinen Schwindel durchschaut. Und dann dachte er an Ceylans Küsse im Schlosskeller und wie sie ihn angesehen hatte, als er ihr von seinen wiedererwachten Gefühlen für Rachael erzählte. Marcdrehte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Da pochte es an den vor dem offenen Fenster geschlossenen Fensterladen.
Er fuhr hoch, drehte am Lautstärkenknopf und lauschte in die Stille. Es klopfte wieder und dann, nach einer kurzen Pause, noch zweimal.
Rachael?, dachte er sofort, das muss Rachael sein, und fühlte, wie alle Haare seines Körpers sich aufrichteten, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen.
Als sie noch ein Paar gewesen waren, klopfte sie, wenn sie spät nachts noch zu ihm kam, auf die gleiche Weise an den Laden. Zweimal, kurze Pause und dann noch zweimal. Das Morsezeichen ihrer Liebe. Das war lange her.
Marc stand auf, balancierte im Halbdunkel um den kleinen, in der Mitte des dunklen Raums stehenden Tisch und die beiden dazu passenden Sessel und trat ans Fenster. Sofort roch er den ihm vertrauten Patschuliduft ihres Parfüms, roch ihr Opium, das sie sich jedes Mal aus dem Flakon mit der roten Verschlusskappe auf die Handgelenke und hinters Ohr getupft hatte, wenn sie zu einer Party gegangen waren.
Noch lange nachdem sie sich getrennt hatten, versetzte es ihm jedes Mal einen Schlag, wenn ihm plötzlich im Supermarkt, im Bus, auf der Straße oder im Kino dieser Geruch in die Nase stach und er sich in alle Richtungen nach Rachael umsah, weil er meinte, sie müsse ganz in der Nähe sein. Er stieß den rechten Ladenflügel auf.
»Du?«, sagte er und beugte sich vor.
»Kann ich reinkommen?«, fragte sie und trat einen Schritt näher.
»Ja … klar … komm«, stotterte er und zog den Laden wieder zu. Leise öffnete er die Tür seines Zimmers, trat barfuß auf den kühlen
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