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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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stattdessen auf dem Kellerboden herum und forschte nach Macadamianüssen unter den Schränken.
    Chris hatte mit dem Gedanken gespielt, kurz bei Karstadt anzuhalten und sich Faxen machend in der Schnellfotokabine fotografieren zu lassen, um den Fotostreifen Klaus kommentarlos an den Briefkasten zu kleben. Stattdessen lenkte sie den Wagen über die Kornstraße in Richtung Busbahnhof Huckelriede.
    Die erleuchtete Senderskala ließ sie an die Abende vor dem Radio denken. Damals. Zu Hause in Oldenburg. Tee, mit Margarine bestrichenes Schwarzbrot und Gurken aus dem Glas. Der Vater, auf der Couch ausgestreckt, die Mutter im Sessel mit einem Kreuzworträtsel auf dem Schoß. Alles lebt in dir weiter.
    ***
    Sie sah Paul in einer kleinen offenen Kiste aus Kirschbaumholz liegen, die man in Kürze in der Erde versenken würde. Das Gesicht ziegelsteinrot, die Finger lang und schwimmhäutig, der winzige Leib zusammengeschrumpft, als sei er bereits im Begriff, sich in Nichts aufzulösen. Sie sah sich mit einer Haarlocke von Paul in der zur Faust geschlossenen Hand an seinem offenen Grab stehen. Den Kopf gesenkt, das Kreuz vom Schmerz gekrümmt. Zuletzt flog in ihrer Phantasie ein großer schwarzer Schmetterling an ihr vorbei, vollführte zwei Schleifen über dem offenen Grab und verschwand.
    Amina fühlte sich wie ein Steinchen, das in einem eben noch ruhigen Flussbett aufgewühlt und an den vorstellbar finstersten Ort gespült worden war. Da spürte sie Bertrams Hand und kehrte in die Wirklichkeit ihres Zimmers zurück.
    »Warum nur?«, sagte sie und dachte: Ich weiß, du bist hier, trotzdem bin ich allein.
    Bis zu diesem Tag hatte sie ein Leben voller geglückter Übergänge geführt. Trotz verhasster Ballettstunden, die sie bald gegen Tennistrainerstunden eintauschte, war sie unbeschadet durch die Meerengen ihrer Heidelberger Kindheit in die Pubertät hinübergeschwommen, hatte erfolgreich deren Strudeln ebenso getrotzt wie den damit verbundenen Hormonstürmen und verwandelte sich zur Freude ihrer erfolgreich mit Heidelberger Zement handelnden Eltern in eine junge, willensstarke und mit der Kunst der Verdrängung gesegneten Frau, die eine Art Glücksabonnement zu besitzen schien. Tod und Verlust waren in ihrem Lebensplanoffenbar nicht vorgesehen. Und wenn es doch einmal jemand in ihrem näheren Umfeld traf, dann buchte sie das unter der Rubrik »Shit happens« ab.
    Was hatte sie mit dem jähen Unfalltod ihres spielsüchtigen Onkels René zu tun, den es nach einem Casinobesuch in Baden-Baden eines Nachts mit seinem eisblauen Porsche Carrera bei 240 km/h aus der Kurve trug? Oder mit der in Umbrien lebenden Cousine ihrer Mutter, die, geschlagen mit einer fatalen Neigung zu Hochprozentigem und anderen Drogen, eines Tages mit dem Gesicht nach unten auf dem von Sonnenspiegelungen zerschnittenen Wasser ihres Swimmingpools trieb?
    Amina Wilkins, von ihren Eltern oft sich selbst überlassen, lernte früh, nur sich selbst zu vertrauen, und vermochte es bis zu diesem Tag gekonnt, die Schicksalsschläge ihrer Familie ebenso ungerührt auszublenden wie die Tatsache, dass ihr Vater seine Frau seit Jahren mit wechselnden, immer jüngeren Blondinen betrog. Was, zum Teufel, ging sie das Liebesleben ihrer Eltern an, solange sich für sie daraus keine praktischen Nachteile ergaben? Sie ging die Dinge eben pragmatisch an. Jeder war seines Glückes Schmied.
    Amina brachte große Teile ihrer Kindheit auf den Ascheplätzen des Heidelberger Tennisclubs 1890 zu, trainierte wie eine Irre und errang mit siebzehn den Titel der südwestdeutschen Jugendmeisterin. Sie war der Schwarm der im Tennisclub verkehrenden Anwalts- und Steuerberatersöhne gewesen. Kurz: Sie war es von Kind auf gewohnt, Trophäen zu sammeln, siegreich zu sein. Bis sie die Turniere und die immer gleichen Feten im Clubhaus mit Sangria, Dope und Flaschendrehen irgendwann satthatte und dem ganzen Tenniszirkus zum Entsetzen ihrer Eltern den Rücken kehrte. Wieso wirfst du dein Talent einfach so weg? Statt eleganter FILA-Trainingsanzüge und ultraknapper Tennisröcke trug sie fortan eine schwarze Nietenlederjacke, gebatikte schwarze Schlabbershirts und Jeans, schwarze wadenhohe Springerstiefelund aus Kronkorken gefertigte Ohrhänger. Zudem hatte sie ihr Schneewittchengesicht blass geschminkt und auf die katzenhaft himmelwärts gebogenen Wimpern ihrer strahlend schönen Augen schwarze Tuscheberge geladen. Und als sie Heidelberg schließlich mit Umweg Bonn in Richtung Köln verließ, wo sie

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