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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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Treppenhaussteinboden und ließ sie herein. Er machte mit dem linken Bein die Tür hinter sich zu, schlang ihr beide Arme um den Hals und drückte wortlos sein Gesicht in ihr Haar.
    Nebeneinander lagen sie auf seiner Matratze neben der Stereoanlage. Der Tonabnehmer drehte sich lange schon in der Auslaufrille der LP und erzeugte ein wiederkehrendes, trockenes Hub-Hub-Hub. Ihre Finger spielten so selbstverständlich miteinander, als hätte es die vergangen vier Jahre nicht gegeben. Marc wollte so vieles erzählen, doch jedes Mal, wenn er ansetzte, flüsterte sie: »Küss mich«, und presste ihre warmen weichen Lippen auf seinen Mund.
    Nach ihrer Trennung waren sie sich fast zwei Jahre lang konsequent aus dem Weg gegangen. Wenn sie sich doch einmal zufällig über den Weg liefen, auf einem der Flure im Schulgebäude, in der Pause auf dem Hof oder in der mit Wellblech überdachten Fahrradhalle, brachte er meist nicht mehr als ein knappes »Hallo« heraus. Bis sie zufällig beide in der Journalismus-AG landeten, die ein ehemaliger Ressortleiter der Frankfurter Rundschau leitete, und sie nach über zwei Jahren das erste Mal wieder mehr als zwei Worte miteinander sprachen. Die dicke Glasscheibe, die sie voneinander trennte, war verschwunden, und Marc stellte mit schmerzhafter Klarheit fest, dass sie noch schöner, noch begehrenswerter geworden war.
    Schon damals hatte Rachael ein besonderes Interesse an politischen Themen gehabt. Sie war bei Ostermärschen mitgelaufen und bei Demos gegen die Nachrüstung und die Stationierung von Pershing-II-Raketen auf deutschem Boden. Sie setzte sich als jüngste Oberstufensprecherin in der Geschichte der Otto-Hahn-Schule erfolgreich für die Errichtung einer Schreib-AG ein und für ein von ihr und einer Handvoll Mitstreitern betriebenes Schülercafé, in dem sie stundenweise zum Selbstkostenpreis Tee, Kaffee, Säfte, Gebäck und selbstgedrehte Zigaretten verkauften.
    Rachael spielte damals mit dem Gedanken, sich nach dem Abitur an einer Journalistenschule zu bewerben, und kurz bevor sie sich trennten, erzählte sie ihm, dass sie angefangen hätte, für die Offenbach-Post mit dem Kürzel RS gezeichnete Artikelzu schreiben. Für 40 Pfennig pro Zeile. Daraufhin hatte Marc ein paarmal die Offenbach-Post gekauft und die Seiten nach Artikeln von ihr durchsucht und einmal, im Lokalteil, einen längeren Bericht von ihr über eine romanische, an der Verbindungsstraße zwischen Obertshausen und Heusenstamm, hinter engstehenden Tannen versteckte Barockkirche gefunden.
    Er knipste die kleine Wandleuchte an, hob den Tonarm an und schob ihn in die Arretierung zurück. Dann legte er Thai Phong auf und schlüpfte wieder zu Rachael unter die dünne Decke. Die ersten Sequenzen von »Sister Jane« erklangen, und sie erinnerten sich an den zugigen Zeltplatz in Zandvoort aan Zee, auf dem sie es trotz Dauerregens im Sommer 85 zwei Wochen lang in ihrem klammen Zweimannzelt ausgehalten hatten, mit dem Fernglas Raubmöwen, Eissturmvögel und die clownesken Alkenvögel beobachteten und später mit Brotkrumen fütterten. Im Café Neuf spielten sie abends Billard und tranken, eng umschlungen am Kaminfeuer sitzend, Bessen Genever. Zweimal waren sie mit dem Zug nach Amsterdam gefahren, wo sie sich durch die verregneten Grachten treiben ließen.
    Zu Beginn ihrer Beziehung hatten sie stundenlang Thai Phong, Kitaro und Pink Floyd, »Wish You Were Here«, gehört und sich im Halbdunkel seines Zimmers gegenseitig gestreichelt und geküsst. Doch nun klang Khanh Mais Eunuchenstimme in Marcs Ohren plötzlich kitschig und nichtssagend, und er wollte etwas anderes auflegen.
    Rachael, die seine Ungeduld spürte, hielt ihn am Arm fest und sagte: »Nein, lass bitte«, und drückte ihr Gesicht in die Kuhle zwischen Schulter und Hals. Nach einer Weile sagte sie: »Ich muss immerzu an die Geiseln in Bremen denken.«
    »Du auch?«, sagte er und küsste zärtlich ihren Hinterkopf. »Wahnsinn, was da abläuft. Ich versteh das nicht.« Und dann erzählte er ihr von Jürgen Wandrey.
    »Albert Camus?«, sagte sie, als ihr Blick auf das neben demBett auf dem Boden liegende Taschenbuch fiel. »Du liest Camus?«
    »Ja. Warum denn nicht?«
    »Wir müssen etwas tun«, sagte sie nach einer Pause.
    »Tun? Was denn tun?«
    »Keine Ahnung«, erwiderte Rachael, »irgendwas. Man kann doch nicht einfach nur zugucken.«
    »Es wird uns aber nichts anderes übrigbleiben«, sagte er und sank neben ihr zurück aufs Kissen. Sollte er ihr von Ceylan und dem

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