Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
Thomas Bertram eines Tages in der Uni-Mensa wiedertraf, war das in ihren Augen ein Triumph gewesen. Ein Sieg des freien Geistes über das Diktat des Heidelberger Kapitals.
Doch nun sah sie sich einer Aufgabe gegenüber, die ihre Möglichkeiten weit überstieg. Sie würde ihr Kind verlieren und konnte nichts dagegen tun. Da halfen kein Verdrängen und auch kein rasch herbeigeholtes Heidelberger Kapital. Nicht einmal Beten half.
Amina starrte in die ruhig und vertrauensvoll auf sie gerichteten Augen der Seelsorgerin, einer schätzungsweise 45-jährigen Frau mit kurzen, goldbraun gelockten Haaren und offenen, freundlichen Gesichtszügen. Die auffallend gepflegte Frau wirkte überhaupt nicht wie eine Pfarrerin, sondern eher wie die Managerin einer Beauty-Farm, die gestressten Karrieristen mit ihren schmalen Händen die pulsierenden, zuvor mit einer kühlenden, nach Astern duftenden Lotion besprühten Schläfen massierte.
Bertram, der von jeher ein Faible für Frauenhände hatte, fielen sofort die sonnengebräunten Hände der Frau auf. Sie bewegten sich mit Grazie. Passend dazu trug die Frau eine schöne, aus mattiertem Platin gefertigte Uhr mit perlmuttfarbenem Zifferblatt, schwarzen römischen Zahlen und haselnussbraunem, geriffeltem Krokolederband.
Beim Anblick ihrer Hände dachte Bertram: Wieso wird eine Frau mit solchen Händen Seelsorgerin in einem Kinderkrankenhaus, wo sie Nottaufen abhalten, verstorbene Kinder segnen muss und verzweifelten Eltern Trost spenden soll, statt in der TV-Werbung als Handmodel Geld zu verdienen?
»Ich taufe übrigens nicht aus Not, ich taufe in die Liebe«, beganndie Frau, die sich ihnen als Hanna Gadient vorstellte, und lächelte sie abwechselnd aufmunternd an. Amina, die noch immer Bertrams Hand auf ihrer Schulter spürte, sagte mit heiserer Stimme: »Ich will nicht, dass er stirbt.«
»Niemand will das, Frau Wilkins«, antwortete die Seelsorgerin beschwichtigend, ergriff Aminas Hände und drückte sie sanft. »Und dass wir Ihr Kind taufen, bedeutet keineswegs, dass es sterben wird. Was geschieht, weiß nur Gott allein.«
»Er darf nicht sterben«, wiederholte Amina wütend und kämpfte mit ihren Tränen.
Eine Viertelstunde später standen sie gemeinsam auf der Intensivstation vor dem Inkubator, Amina saß zur Sicherheit im Rollstuhl.
»Haben Sie vielleicht einen Bibelspruch oder sonst einen tröstlichen Gedanken, den Sie Ihrem Kind mitgeben möchten?«, fragte die Seelsorgerin.
Bertram fixierte den kleinen, wie ein Laboräffchen an mehreren Stellen verdrahteten Körper, der in seiner gläsernen Todeskapsel lag und doch unerreichbar schien, sah die geschlossenen, an Eidechsenaugen erinnernden dünnhäutigen Lider, hinter denen die Augäpfel ruhelos auf und ab tanzten, sah das Auf und Ab des Oberkörpers, sah die eisblaue, pulsierende Schläfe. Sein Sohn sah aus wie ein urzeitliches, aus dem ewigen Eis geborgenes Wesen, das nun vor ihnen in seiner Glasglocke lag und doch seine Fremdheit bewahrte, die winzigen Hände zu dürren Klauen verkrallt, die von der Windel sacht gespreizten Beine wie mit einer dünnen Porzellanhaut überzogen, die jeden Moment reißen konnte.
»Denken Sie mal darüber nach«, sagte die Seelsorgerin. »Ich hole derweil die Taufschale und was ich sonst noch für die Zeremonie brauche, und lasse Sie jetzt ein paar Minuten mit Schwester Christina allein, einverstanden?«
»Ja, ist gut«, antwortete Bertram, sah die Stationsschwesteran, die auf einem Stuhl neben der Tür saß, und sagte: »Ich würde ihn gerne berühren. Darf ich?«
»Ja, natürlich. Aber vorher müssen Sie bitte Ihre Hände desinfizieren.« Sie wies auf den Flüssigkeitsspender, der neben dem Waschbecken angebracht war. Nachdem beide ihre Hände gesäubert und mit einer sich rasch verflüchtigenden Flüssigkeit besprüht hatten, öffnete die Schwester auf beiden Seiten die Bullaugen des Brutkastens, und sie konnten den kleinen, im Schlaf gefangenen Körper berühren.
Später würde Bertram die Sekunden, in welchen seine Finger das erste Mal seinen Sohn berührten, als die aufwühlendsten, schönsten und zugleich traurigsten seines Lebens beschreiben.
Als er zu Amina hinüberblickte, um zu sehen, ob sie ebenso fühlte wie er, sah er, dass ihr eine Träne über die Wange lief. Im selben Moment ging die Tür auf, und die Seelsorgerin betrat das Zimmer. Vorsichtig zog er seine Hand aus dem Inkubator.
Die Frau hielt die Taufschale und eine regenbogenfarbene Kerze in der Hand. Mit Blick auf
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