Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
ansonsten dunklen Gebäudes gesehen zu haben.
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Die kleine englische Standuhr in der Diele schlug halb zehn. Zwei Schläge wie zu jeder halben Stunde, und Brigitte saß, nachdem ihr unverschämter Gast endlich verschwunden war, im Wohnzimmer auf dem Fußboden und hielt Mariannes Brief in der Hand. Neben sich ein halbvolles Glas Rotwein und auf den Knien die Agfa-Schachteln, in denen sie die Aufnahmen von Martin aufbewahrte. Hunderte Schwarzweißfotos von seinenReisen. Bilder, die ihn in den unterschiedlichsten Phasen seines Reporterlebens zeigten, viele davon aufgenommen von Jay, dem Mann mit den sieben Leben.
Die Fotos, überwiegend aus den Siebzigern, zeigten einen langhaarigen, breit grinsenden Draufgänger, in dessen Augen jene Entschlossenheit auszumachen war, die ihn länger und verbissener an einer Sache dranbleiben und um sie kämpfen ließ als andere. Andere zeigten den stillen, in sich gekehrten Zweifler, auf dessen Stirn sich Furchen zeigten, die nicht von den Rändern der Basecap herrührten, die er mit Vorliebe auf seinen Reisen trug. Zu ihrer Überraschung fand sich dazwischen eine Aufnahme von Martin gemeinsam mit seinem Vater Christian, der für Martin bis zuletzt, auch wenn er das nie zugegeben hätte (nicht einmal betrunken), sein heimliches Vorbild geblieben war.
Selbst jetzt, sechs Jahre nachdem sie einander das letzte Mal begegnet waren, bei Martins Begräbnis im September 1982 auf dem Melatenfriedhof in Lindenthal, flößte ihr das Gesicht des Mannes Respekt ein. Wie er in die Kamera schaute, mit dieser unverhohlenen Verachtung für den, der es mit seinem Objektiv auf ihn abgesehen und schließlich gewagt hatte, auf den Auslöser zu drücken.
Weshalb sein Vater immer so abweisend, ja geradezu angeekelt auf Bildern dreinschaue, hatte sie Martin einmal gefragt. »Weil er es hasst, fotografiert zu werden, keine Ahnung, weshalb«, hatte er geantwortet. »Solange ich denken kann, meidet er Kameras wie die Pest. Als ich ihn als Junge fotografieren wollte, sah er mich ruhig an und sagte freundlich, aber bestimmt: ›Tu das nicht.‹«
Sie durchsuchte die Schachteln in der Hoffnung, noch weitere Aufnahmen von Christian Andernach zu finden, denn vom ersten Augenblick an hatte der Mann eine irritierende Wirkung auf sie gehabt.
Was hatte Christian Andernach von der Arbeit seines Sohnesgehalten? Glaubte Martin wirklich, seinem unberührbaren Vater mit seiner Arbeit imponieren zu können? Mit seinem in ihren Augen manchmal geradezu kindischen Mut und der Tatsache, dass er unter Einsatz seines Lebens auf seine Weise dafür kämpfte, dass die wie auch immer geartete Wahrheit ans Licht kam?
Brigitte hielt erschrocken inne und spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann, als sie auf das Foto von Martin stieß, auf dem er lächelnd, aber in unverkennbarer Anspielung auf die Bilder des von der R. A. F. entführten Hanns Martin Schleyer vor einer weißen Wand saß und ebenfalls ein großes, mit Filzstift beschriebenes Schild vor der Brust hielt, auf dem, der TV-Botschaft des Arbeitgeberpräsidenten: »Seit zwanzig Tagen Gefangener der R. A. F.«, nachempfunden, in schwarzen Lettern geschrieben stand: »Seit drei Jahren ein glücklicher Gefangener deiner Liebe!«
Das Foto hatte er ihr 1979 zum dritten Jahrestag ihres Kennenlernens geschenkt, doch sie hatten damals sofort Streit deswegen bekommen. Martin hatte von jeher etwas Sarkastisches an sich gehabt und konnte manchmal regelrecht zynisch sein. Sie hatte ihn als gemein und gefühllos beschimpft und nicht verstehen können, wie er seine Gefühle für sie mit etwas so Schrecklichem gleichsetzen konnte, das knapp zwei Jahre zuvor passiert war.
Sie legte das Bild verkehrt herum in die Schachtel zurück und griff nach einem Foto, das Martin, zwei Jahre später, ebenfalls von Jay aufgenommen, mit einem braunweiß gefleckten Windhundwelpen zeigte, den er liebevoll im Arm hielt. Martin hatte immer von einem eigenen Hund geträumt, sich aber aus Verantwortung dem Tier gegenüber, wie er sich damals ausdrückte, dagegen entschieden. »Wer soll sich um ihn kümmern, wenn mir mal was zustößt? Du etwa?«, antwortete er, als sie ihm von ihrer Idee erzählte, ihm einen Hund zu schenken. »Das kann ich nicht von dir verlangen. Und das will ich dir auch nicht zumuten.«
Brigitte blickte in seine Augen auf dem Foto, sein kindliches Lächeln, das sie so an ihm geliebt hatte. Und fing an zu weinen. Endlich.
Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und lief
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