Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
hinüber in ihr dunkles Arbeitszimmer, knipste die Schreibtischlampe an und nahm die Staubschutzhülle von der Maschine. Dann legte sie ihre Hände auf die Tasten wie eine Pianistin, die wartet, bis im Saal völlige Ruhe eingekehrt ist, um ihr Spiel ungestört zu beginnen, und schrieb: Tränen, die fließen, dachte Mireille, sind bitter. Bitterer aber sind die Tränen, die nicht fließen.
»Es ist nichts Schlimmes geschehen«, sagte sie laut, als spräche sie zu jemandem hin. »Es ist bloß, dass ich aufgewacht bin.«
***
Er konnte noch immer nicht fassen, wie kinderleicht alles abgelaufen war. Mit einer unerklärlichen Selbstverständlichkeit. Als hätte er nie etwas anderes getan, als den Boten für schwerbewaffnete Geiselgangster zu spielen. Er war zur Stelle gewesen, als die Situation es verlangte. Zum richtigen Zeitpunkt am rechten Ort. Ein Hans im Glück unter lauter angstgelähmten Losern. Er hatte die Szenerie betreten wie eine ihm vertraute Bühne, auf der man ihn bereits erwartete. Um seinen Part zu spielen. Den des strohblonden Hermes. Als sei er vor langer Zeit dafür ausgewählt worden. Ein vom Schicksal Vorbestimmter. Ein neuzeitlicher Herold, der statt seines Stabs eine Kamera vor sich hertrug.
Als Sechzehnjähriger hatte Peter Ahrens eine Zeitlang unter plötzlich auftretenden Visionen gelitten. Das, was er damals verharmlosend Tagträume nannte, waren sich anfallartig vor sein inneres Auge schiebende Visionen, die dem immer gleichen Schema folgten. Er sah die Szene, die er gerade erlebte, plötzlich ins Katastrophale verzerrt. Die junge Frau, die vor ihm an der Kasse stand und ihn eben noch freundlich anlächelte, lag im nächsten Moment mit zwei Einschusslöchern im Bauch blutüberströmtauf dem Boden. Oder der Alte, der in seinem Rollstuhl vor einem Zebrastreifen geduldig darauf wartete, dass die Fußgängerampel von Rot auf Grün umschaltete, kollidierte mit einem wie aus dem Nichts herannahenden Wagen und wirbelte schreiend durch die Luft.
Das dauerte meist nur wenige Sekunden, versetzte Ahrens aber jedes Mal in eine plötzliche, von kalten Händen und galoppierendem Puls begleitete Starre. Als hätte jemand in seinen Wahrnehmungsfilm kurze, schockartige Bildschnipsel hineinkopiert, um ihn damit langsam, aber sicher um den Verstand zu bringen.
Ahrens erzählte damals aus Angst, man könne ihn für verrückt halten, keiner Menschenseele von seinen Einbildungen und horrorfilmähnlichen Phantasien. Bis er sich auf einer Klassenfahrt seiner Deutschlehrerin offenbarte und der Spuk damit vorbei war. Von einem Tag auf den anderen.
Die Frau reagierte ruhig und gelassen. Sie sprach mit ihm über das Wesen des Bösen und über seine geheimen Mächte. Und darüber, dass kein Mensch davor sicher sein könne. Selbst der Gutmütigste, Aufrichtigste nicht.
Daran musste Peter Ahrens denken, als er sich im Bus ungläubig umsah, die schussbereite Kamera in der Hand. Er drängte sich an dem zweiten Kidnapper vorbei, der ihn mit seinem Colt in den hinteren Teil des Busses dirigierte. Ahrens fing den hilfesuchenden Blick eines schwarzhaarigen Jungen auf, der seinen Arm von hinten um ein ebenfalls schwarzhaariges Mädchen legte. In ihrem streng zurückgekämmten Haar steckte ein bunter Reif. Ihre Augen wirkten müde, und ihr Blick seltsam verschwommen.
Er lächelte sie kurz an wie der Zahnarzt, bevor er den Bohrer in den kariösen Zahnschmelz des wehrlosen Patienten senkt, hob die Canon vors Gesicht, stellte auf Dauerbetrieb, legte den Finger auf den Auslöser und drückte ab. Der Power-Winder surrte.
***
Wenn Menschen eine lange Reise unternehmen, dann erzählen sie hinterher davon, zeigen Fotos herum, geben Tipps und genießen die neidvollen Blicke ihrer Zuhörer. Von der langen Reise, die der ehemalige Sonderschüler und Kleinkriminelle Hans-Jürgen Rösner einst in Gladbeck antrat, um 31 Jahre später am Busbahnhof in Bremen-Huckelriede anzukommen, gab es solche Bilder nicht. Keine Briefe, keine alten Tickets, keine Tagebuchaufzeichnungen, nichts. Allenfalls ein paar vergilbte Postkarten aus wechselnden Vollzugsanstalten. Und die eigene Erinnerung. Darüber gesprochen hatte er nur mit seiner Schwester, in deren winziger Gladbecker Wohnung er sich die letzten zwei Jahre versteckt hielt. Aber sonst?
Nun, ein halbes Leben später, entstand innerhalb weniger Minuten eine derart große Menge von Bildern von ihm, dass ihm bei der Vorstellung schwindelig wurde, sie allesamt in irgendwelche Alben oder an die
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