Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
plötzlich in Bewegung setzten, sich vermischten und in kleine, wie in Zeitlupe rinnende bunte Bäche verwandelten. Peter Ahrens hatte das Gefühl, auf einer Welle des Unglaubens und des Glücks davongetragen zu werden.
Einmal hatte er einen Bild-Kollegen, der kurz zuvor einen erstochenen Barbesitzer fotografiert hatte, sagen hören: »Wäre es nicht cool, wenn man vom Auge des Toten die oberste Schicht abziehen und sie wie ein Foto entwickeln könnte, um zu erfahren, wen oder was er als Letztes gesehen hat?« Das klang im ersten Moment interessant. Doch als Ahrens sich vorstellte, wie man dem Toten mit einem Skalpell die Kornea von der Linse abschälte, drehte ihm dieser Gedanke fast den Magen um.
Das hier war etwas völlig anderes: Hier ging es um die professionelle Dokumentation eines Dramas von innen. Um objektive Berichterstattung, fotojournalistische Geschichtsschreibung. Mit einem triumphierenden Glucksen in der Stimme sagte einer der Kollegen: »Jetzt sind wir die Einzigen, die was anbieten können. Klasse, was?«
Als die beiden Kollegen ihre Bilder gemacht hatten und den Bus wieder verließen, wandte Ahrens sich an Rösner und sagte mit einem Grinsen: »Ich geh dann mal rüber zur Polizei und frage, wie es aussieht.«
***
»Ich müsste dringend mal telefonieren«, sagte Chris, als sie Ecke Bahnhofstraße / Hochstraße eine Telefonzelle entdeckte. Ihr Gast steckte sich eine Zigarette an, und blies ihr von hinten den Rauch um die Ohren.
»Ich muss telefonieren! Und zwar dringend!«, wiederholte sie. Mit Sicherheit saß Wanda mit ihrem Sony-Walkman in der Küche ihres Vaters, trank Coca-Cola und hörte, was sie immer hörte: Bob Marley oder Peter Tosh. Und natürlich hatte sie vergessen, einen Arzt anzurufen.
»Telefonieren? Jetzt? Die können sich jede Minute in Bewegung setzen, und Sie wollen telefonieren?«
»Wenn es Ihnen nicht passt, können Sie ja aussteigen. Ich bin gleich wieder da.« Entschlossen nahm sie ihr Portemonnaie ausder Mittelkonsole, zog den Zündschlüssel ab und stieß die Tür auf. Vorbei an den Schaulustigen, die sich in sicherer Entfernung zu dem Bus versammelten, betrat sie die Telefonzelle. Der Gestank und die darin gestaute Hitze raubten ihr den Atem. Mit zitternden Fingern warf sie einen Fünfziger in den engen Metallschlitz, wählte die Nummer ihres Vaters in Oldenburg und presste den Hörer ans Ohr. Neben das kleine Sichtfenster, in dem sich ihr Fünfziger befand, hatte jemand mit einem spitzen Gegenstand »Wo bist du, Anna?« in kantigen Lettern in die graugrüne Metalloberfläche des verschrammten Telefonautomaten geritzt. Und etwas weiter unten stand: »Komm zu mir zurück. Noch ist es nicht zu spät.«
Chris stemmte das linke Bein gegen die Tür, um den Mechanismus, der sie zum Schließen brachte, zu unterbrechen, und lauschte schwer atmend in die Stille. Nach zehnmaligem Durchläuten verschwand ihr Fünfziger mit einem Rasseln aus dem Sichtfenster, fiel in den Schacht, und am anderen Ende hörte sie Wanda auf ihre leicht schläfrige Art sagen: »Jaaaa? Haaaalloooo?«
»Wanda, wie geht es meinem Vater? Hast du einen Arzt gerufen?«
»Nein«, kam es von der anderen Seite mit empörender Gleichgültigkeit.
»Warum nicht? Ich hab dir doch …«
»Er hat verboten.«
»Was hat er dir verboten? Dass du einen Arzt holst? Das hat er dir verboten?«
»Ja«, antwortete Wanda. »Soll in Ruhe lassen! Habe ich getan. Alles wegen Nusse. Waren uberall. Unter Schrank. Unter Tennisplatte.«
»Verschon mich mit deinen verdammten Nüssen, Wanda«, sagte Chris. »Wo ist mein Vater jetzt?«
»Liegt in Sessel. Kann sich nicht bewegen.«
»Wanda! Hör mir zu, verdammt! Du rufst jetzt auf der Stelle einen Arzt, hast du mich verstanden? Wahrscheinlich hat er sich was gebrochen. Oder sogar innere Verletzungen. Ich lege jetzt auf, und wenn ich in fünf Minuten wieder anrufe, hast du einen Arzt gerufen, ist das klar? Wanda!«
Es klickte in der Leitung, und Chris starrte auf das leere Sichtfenster. »Wanda?«, rief sie. »Hallo? Wanda? Bist du noch dran? He, hallo?« Doch als Antwort erhielt sie nur das Besetztzeichen. Wanda hatte aufgelegt.
Chris überlegte kurz, griff sich wieder den Hörer, nahm einen weiteren Fünfziger aus ihrem Portemonnaie und warf ihn in den Schlitz. Erneut wählte sie die Nummer ihres Vaters und presste den Hörer wieder ans Ohr. Dabei trommelte sie ungeduldig mit den Fingern auf den Telefonautomaten. Auch nach dem fünfzehnten Klingeln nahm Wanda nicht
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