Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
dem blonden Mädchen neben der vorderen Bustür vor einer Wand postiert und hielt ihr den Colt an die Kehle. Sämtliche Kameras waren auf ihn gerichtet. Alle redeten durcheinander. Blitzlichter flammten auf. Reporter streckten Degowski ihre Mikros entgegen. Im Scheinwerferlicht verwandelte sich die Szene in etwas vollkommen Unwirkliches. Ein Mann, der einer jungen Frau seine Waffe gegen die Halsschlagader drückte und ein Fernsehinterview gab.
Reporter: »Sind Sie wirklich bereit, Leute umzubringen?«
Degowski: »Ja.«
Reporter (fragt Silke Bischoff): »Wie geht es Ihnen mit der Pistole am Hals?«
Bischoff: »Ja, eigentlich ziemlich gut dafür, dass ich … mir ist das alles noch gar nicht so bewusst …«
Degowski: »Zu jung.«
Reporter: »Können Sie sich vorstellen, dass er wirklich abdrückt?«
Bischoff: »Nee.«
Reporter: »Eigentlich nicht.«
Bischoff: »Nö.«
Reporter (an Degowski gerichtet): »Ich hoffe sehr, Sie behalten recht. Und ich hoffe sehr, Sie tun’s wirklich nicht.«
13
(M) die tageszeitung
Geiselnehmer schlief – Polizei auch
Polizeieinsatz in Gladbeck wirft Fragen auf / Warum durften die Gangster die Bank verlassen? / Wohin geht die Fahrt? Gangster gehen shoppen.
Kaum noch nachzuvollziehen ist jene Stunde am Mittwochmorgen in Bremen, als der Haupttäter Rösner mit seiner Komplizin L. in drei bis vier Geschäften einkaufen ging, während der Täter Degowski als Dritter im Bunde allein im Fluchtfahrzeug auf den Sitzen der Rückfront zwischen den beiden Geiseln saß. Die Geiseln selbst dachten an Flucht, doch ihre Furcht war zu groß. Wo war in diesen Minuten die Bremer Polizei?
Nicht schlecht für eine 33-Jährige, dachte Chris und studierte im Rückspiegel ihre Gesichtszüge. Und es gibt nichts, was ich nicht schaffe, fügte sie in Gedanken trotzig hinzu.
Sie hatte schon früher gelegentlich sogenannte »Sieger« gefahren, Touren, bei denen die Uhr ausblieb und man den ganzen Fahrpreis alleine einstrich. Der hier aber war mit Abstand der unsympathischste. Schon als er zu ihr in den Wagen stieg, spürte sie, dass sie ihn nicht mochte. Jede seiner Anweisungen klang in ihren Ohren arrogant und oberlehrerhaft, und selbst sein gelegentliches Räuspern ging ihr inzwischen bloß noch auf die Nerven. Sie tröstete sich damit, am Ende des Tages 700 Mark mehr in der Kasse zu haben.
Sie hatte schon vor einer Weile den Funkkanal ausgeschaltet, weil sie das plötzliche Knacken jedes Mal erschreckte, ebenso die Dachleuchte und den Taxameter, dessen zwei schwarze Nullen auf weißem Grund sie nun anstarrten wie zwei tote Augen.
Sie standen etwas abseits, schätzungsweise 80 Meter entfernt, und verfolgten bei heruntergedrehten Scheiben das Spektakel rund um den Bus. Immer wieder flammten Blitzlichter auf. Genau wie bei den Filmfestspielen in Berlin, wenn die Stars über den roten Teppich laufen, dachte Chris. Noch ein, zwei Stunden, dann ist das hier alles vorbei, und ich liege mit über 700 Mäusen zu Hause entspannt in der Wanne.
Sie waren bereits eine Weile unterwegs gewesen, da zog ihr Fahrgast zu ihrer Überraschung ein Walkie-Talkie aus seiner Aktentasche und hielt seine wechselnden Gesprächspartner oder Auftraggeber mit übertriebenen Schilderungen auf dem Laufenden. Auch jetzt redete er wieder, laut und dramatisch, und beschriebwichtigtuerisch, was er sah. Dabei schmückte er seine Sätze mit Worten wie »unglaublich« oder »noch nie da gewesen« aus, wobei sich seine Stimme ein paarmal regelrecht überschlug.
Chris schob sich genervt einen Marshmallow in den Mund. Die Augen brannten, ihr Rücken tat ihr weh, und im Unterleib verspürte sie ein Ziehen, offenbar bekam sie ihre Tage.
Wieder stellte sie sich vor, wie ihr Vater reglos im Keller in seinem Sessel lag, schwerverletzt und womöglich bereits ohnmächtig. Früher, als kleines Mädchen hatte sie sich manchmal, wenn er sich nach dem Essen zum Mittagsschlaf hinlegte, mit zugekniffenen Augen an seinen starken Rücken geschmiegt. Dabei lauschte sie so lange auf seine schweren, tiefen Atemzüge, bis ihr eigener Atem in seinen Rhythmus überging und sie eins wurden. Sie mochte dieses sekundenlange Verschmelzen, als sei sie zu einem Teil ihres Vaters geworden, und stellte sich mit geschlossenen Augen vor, wie sie gemeinsam durch das weite Universum des Schlafs tauchten und die Traumbilder wie kleine, bunte und von hell strahlenden Fabelwesen bewohnte Planeten an ihnen vorbeizogen auf ihrer Odyssee ans Ende des Schlafs, an dem
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