Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
Vom Netzwerk:
hatte der Amerikaner seine Karriere überraschend mit nur 22 Jahren beendet, doch an seiner Wirkung auf Kirchner änderte das nichts. Er ließ sich wie sein Vorbild einen Schnauzer stehen und jagte im Volksbad weiter unverdrossen persönlichen Bestzeiten hinterher. Nun, 15 Jahre später, dachte er, wenn er auf seine Zeit als Spitz-Fan und Schwimmer zurückblickte, wehmütig:Jäger waren wir beide damals. Auch wenn er Bestzeiten und ich durchgeknallte, bombenlegende Fanatiker gejagt habe.
    Er lief in die Diele, schloss die dunkle Nussbaumkommode auf, in welcher er seine Dienstwaffe, eine 16-schüssige Walther, unter Verschluss hielt, und ging damit zurück in die Küche. Dort öffnete er den abgewetzten Lederholster, zog die Pistole heraus und drehte und wendete sie nachdenklich im Licht. Als er sein Spiegelbild in der nachtschwarzen Fensterscheibe sah, hob er die Walther an, richtete sie mit ausgestrecktem Arm auf seine unscharfe Silhouette und murmelte: »Na wartet, ihr Schweine.« Kirchner bekam eine Gänsehaut an beiden Armen und spürte ein stimulierendes Kribbeln im Nacken. Er ließ die Pistole sinken, legte sie auf die Arbeitsplatte und trank einen Schluck Bier.
    Der Hammond-Song war zu Ende, und der Moderator sagte: »Wie unser Reporter berichtet, ist der gekaperte Geiselbus, der, wie es hieß, in Richtung Holland losgefahren war, soeben überraschend auf die Raststätte Grundbergsee abgebogen. In Kürze schalten wir live dorthin, von wo sich mein Kollege Sven Brauer mit den neusten Informationen melden wird. Bis dahin aber noch ein paar Takte von Foreigner und ihrem Hit aus dem Jahr 1977, ›Cold as Ice‹.«
    Kirchner starrte einige Takte lang ins Nichts. Dann wurde die lästige Musik endlich ausgeblendet, und der Moderator sagte: »Wir schalten nun hinüber zur Raststätte Grundbergsee bei Bremen, wo der Geiselbus vor wenigen Minuten überraschend haltgemacht hat. Sven, was können Sie zu der Lage vor Ort sagen?«
    »Die Lage ist gerade ziemlich unübersichtlich, um nicht zu sagen chaotisch«, begann der Reporter. »Der hell erleuchtete Bus ist umringt von Journalisten, immer wieder flammen Blitzlichter auf. Von der Polizei ist nichts zu sehen. Es heißt, der Bus habe angehalten, weil Rösners Freundin eine Toilette aufsuchen musste. Doch eine offizielle Bestätigung dafür habe ich im Moment noch nicht.«
    »So eine Scheiße«, murmelte Kirchner. Er konnte das alles nicht mehr hören, von der Polizei ist nichts zu sehen. Was hatten die Leute denn für Vorstellungen? Dass eine Armada von grün-weißen Einsatzfahrzeugen mit quietschenden Reifen, Blaulicht und Martinshorn auf dem Rastplatz vorfuhr, uniformierte Beamte aus den Fahrzeugen sprangen und wild in der Gegend herumballerten? War es das, was sie wollten? Herabschwebende Grenzschutz-Helikopter mit rotierenden Suchscheinwerfern, aus denen vermummte Beamte mit ratternden MPs den Geiselbus beschossen?
    Verdrossen schaltete er das Radio aus, löschte das Licht, ging ins Schlafzimmer zurück und streckte sich wieder neben Barbara aus.
    ***
    »Fahr bei der nächsten Raststätte raus! Meine Freundin muss aufs Klo«, sagte Rösner im Befehlston und gab Adam Jalowy mit dem Colt ein Zeichen.
    Auf den Gesichtern der Geiseln machte sich inzwischen Resignation breit. Da, wo noch eine Stunde zuvor in den Blicken und Gesten der Männer und Frauen eine zuversichtliche Anspannung zu erkennen gewesen war, spiegelten sich nun, da die Polizei noch immer keinerlei Anstalten machte, sie aus ihrer Lage zu befreien, bloß noch Entsetzen und Starre.
    Rösner war seit ihrer fluchtartigen Abfahrt aus Huckelriede wie verwandelt. Einmal schrie er eine alte Frau an, weil sie es gewagt hatte, sich nach ihrer Handtasche zu bücken, die auf den Boden gefallen war. Wenig später stieß er dem Busfahrer wütend den Lauf seines Colts gegen die Schulter, weil der fragte, wo die Fahrt hingehen sollte. Dass die Polizei seiner Forderung nach einer Polizeigeisel und einem neuen Fluchtwagen nicht entsprochen hatte und ihm beharrlich jede Form der Kontaktaufnahme verweigerte, setzte eine jähe Wut in Rösner frei. Er schien vollkommenunberechenbar. Eben noch gab er freimütig Interviews, verteilte Zigaretten und scherzte mit den beiden zugestiegenen Fotografen. Doch nun zeigte sich das Gesicht eines entschlossenen, erkennbar von Panik befallenen Einzelkämpfers, der seine Felle davonschwimmen sah. Der wachsende Druck, der auf ihm lastete, strömte aus jeder Pore seines verschwitzten,

Weitere Kostenlose Bücher