Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
und angelte nach den Marshmallows.
»Das tut mir leid«, erwiderte ihr Fahrgast von hinten. »Hoffentlich nichts Ernstes!«
»Er will nicht, dass man einen Arzt holt«, sagte sie und bekam die weiche Süßigkeit zu fassen.
»Ich muss näher ran«, sagte der Mann.
»Bitte?«
»Ich muss näher ran!«, wiederholte er. »Können wir näher ran?«
»Also ich weiß nicht«, antwortete Chris. »Um ehrlich zu sein, ich …« Da packte er sein Walkie-Talkie und stieß die Tür auf. In schnellen Schritten lief er hinüber zu all den anderen Journalisten, die um den Bus herumstanden.
Chris sah ihm entgeistert hinterher. Erst die Begegnung mit dem Mann im Dom. Anschließend die Sache mit ihrem Vater. Nicht zu vergessen die Ferntour mit dem Typ, der über eine schwere Eisenkette mit einem superflachen Köfferchen verbunden gewesen war und ihr seine Vollenweider-Kassette gab. Die Fahrt zum Flugplatz Rotenburg Wümme brachte ihr 200 Mark ein. Und diese hier weitere 700. Ihre Tageskasse war geradezu phänomenal! Und nun das hier.
Sie hoffte, dass die Polizei dem Geiselspuk bald ein rasches Ende machte, und sie sich in der Zentrale abmelden und nach Hause fahren konnte.
***
Marc liebte es, in der hereinbrechenden Dunkelheit an das Grab seiner Mutter zu gehen, wenn kaum noch Besucher zu sehen waren, der Wind heulend um die Grabsteine zog und in den Blättern der Bäume rauschte und die Friedhofsarbeiter die kleinen, an den Gräbern stehenden roten Windlichter entzündet hatten. Wenn er nur lange ausharrte und sie in seinen Gedanken anrief, hatte er irgendwann das sichere Gefühl, ihr ganz nah zu sein.
In der ersten Zeit nach ihrem jähen und für Marc unbegreiflichen Unfalltod fürchtete er sich regelrecht davor, an das Grab seiner Mutter zu treten, mit ihrem Grabstein zu reden und dabei mit den Tränen kämpfen zu müssen. Und so dauerte es fast ein Jahr, ehe er sich das erste Mal auf den Weg machte.
Ein angetrunkener LKW-Fahrer hatte auf der Kesselstädter Straße zwischen Hanau und Dörnigheim auf Höhe des Wasserturms die Kontrolle über seinen 7,5-Tonner verloren und war frontal in ihren V W Käfer 1303 gerast. Angelika Steiner, die sich auf dem Rückweg von einem Klassentreffen in Frankfurt befand, sei, so die spätere Erklärung des zuständigen Gerichtsmediziners, auf der Stelle tot gewesen. Die von den Strahlern in ein grelles, unwirkliches Licht getauchte und von Glasscherben übersäte nächtliche Straße, in deren Mitte die beiden ineinander verkeilten Fahrzeuge standen wie zwei unterschiedlich große Insekten, denen man beim Blick durch das Okular eines Mikroskops dabei zusah, wie sie sich paarten, würde er nie mehr vergessen. Ebenso wenig die asynchron im Rhythmus zweier heftig schlagender Herzen pulsierenden Blaulichter der beiden Polizeifahrzeuge. Vor allem aber nicht den von einer silberfarbenen Plane bedeckten Leichnam seiner Mutter.
Marc hatte damals gegen die Bitte seines Vaters darauf bestanden, mit zum Unfallort zu kommen, und es nie bereut. Er hatte das zerstörte Auto sehen müssen, denn nur so glaubte er begreifen zu können, was geschehen war.
Aus dem bis dahin guten Schüler wurde binnen kurzem ein gerade noch mittelmäßiger und aus dem lebenslustigen Jungen ein ernster und zumeist nachdenklicher Grübler, der abnahm, sich die meiste Zeit in seinem Zimmer verkroch, Musik hörte und an die Decke starrte.
Sieben Jahre lag das Ganze inzwischen zurück. Sieben Jahre ohne sie. An Geburtstagen, an Werktagen, an Weihnachten, in den Ferien. 2500 Tage. Eine Ewigkeit.
Er ließ seinen Gefühlen damals freien Lauf und schrie und schluchzte so lange, bis ihn die Kräfte verließen. Ganz im Gegensatz zu seinem Vater, der noch Stunden später wie chloroformiert wirkte. Er saß reglos in der Küche, vor sich auf dem Tisch eine Flasche Schnaps und ein Wasserglas, das er so oft füllteund leerte, bis Marc ihn am nächsten Tag auf dem Fußboden liegend fand und er endlich losheulte. Damals, genau in diesem Moment, begriff Marc, dass ein Teil seines Lebens plötzlich unwiederbringlich enden konnte, während andere Teile wie selbstverständlich weiterliefen. Als er tags darauf am späten Vormittag erwachte und aus dem Fenster sah, schien trotz der nächtlichen Katastrophe alles wie immer: Die Sonne strahlte vom Himmel, Frauen im Haus gegenüber putzten ihre Fenster, Kinder kamen aus der Schule, Autos fuhren vorbei. An der Bewegung der Wolken sah er, dass die Erde sich weiterdrehte. Doch sie tat es ohne Angelika
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