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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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Steiner.
    Er lag auf seinem Bett und wartete ungeduldig auf Neuigkeiten zum Geiseldrama. Auf HR 3 sang Kylie Minogue »I should be so lucky«, und Marc dachte: Sollte ich das? Als der Minogue-Song ausgeblendet wurde und ein Moderator sich meldete, hörte er, wie ein Ladenflügel geöffnet wurde und Rachael ins Zimmer hineinrief: »Mach auf, Marc!«
    Er ließ sie herein, doch ehe er fragen konnte, wo sie gewesen war, schlang sie beide Arme um seinen Hals und sagte: »Los, komm! Wir müssen handeln!«
    Als sie zehn Minuten später auf ihren Rädern über die verlassene, nur da und dort von den Laternen schwach beleuchtete Philippsruher Allee in Richtung Innenstadt fuhren, weihte Rachael ihn in ihren Plan ein und klopfte mit der freien Hand ein paarmal triumphierend gegen den Matchbeutel auf ihrem Rücken, in dem die Spraydosen klapperten.
    ***
    Degowski wusste nun genau, wer ihm die Kraft verliehen hatte, so etwas wie das hier zu machen. Interviews zu geben und so was. Und hart zu sein. Stark. Nicht der liebe Gott oder so, nee. Sein Vater hatte ihn so stark gemacht. Der hatte ihn herausgefordert. Hatte ihn abgehärtet mit seinen Schlägen und ihm gezeigt,worauf es ankam. Es war nicht immer leicht gewesen, die Schläge auszuhalten. Aber sie hatten ihn stark gemacht. Stark und unempfindlich. Das spürte er jetzt.
    Natürlich gab es immer wieder Momente der Schwäche und der Verzweiflung. Und mehr als einmal dachte er, wenn die Schläge auf ihn niederprasselten: Wenn ich groß bin, bring ich dich um, du Schwein! Dann wieder redete er sich ein, dass sein Papa ihn liebte. Und dass der es ihm eben nur so, nur auf diese Weise zeigen konnte. Auch wenn die Schulpsychologen und die Frau vom Sozialamt was anderes behaupteten. Sein Papa liebte ihn. Und auch den Charlie. Nur gehörte er eben zu jener Sorte Mensch, die ihre Liebe durch Schläge ausdrückte. Ein Mann, der seine Botschaft lieber mit Fäusten oder dem Gürtel mitteilte als mit Worten. Ein Mann, der seine Söhne mit Härte auf die Wirklichkeit vorbereitete, in der man gezwungen war, stark zu sein. In der man Schläge aushalten musste, um nicht unterzugehen.
    Schläge konnte man ertragen. Er hatte nie verstanden, welche Lektion sein Vater ihm damit beigebracht hatte. Doch jetzt verstand er es. Jetzt begriff er, was es war. Und er fühlte sich seinem Vater näher denn je. Diesem Schwein. Ein bitteres Lächeln zog über sein verschwitztes Gesicht.
    Wieder im Bus, klappte er, während er mit der anderen Hand den Colt hielt, die Marlboro-Schachtel auf, drückte sie gegen die Lippen und zog mit den Zähnen eine Zigarette heraus. Anschließend schob er die Klappe durch Druck gegen den Oberschenkel wieder zu, ließ die Schachtel in seiner Gesäßtasche verschwinden, holte das Feuerzeug heraus und steckte die Zigarette an. Er inhalierte, so tief er konnte. Er brauchte diese kleinen Kicks jetzt immer häufiger. Gleichzeitig zog in einer scharfen Welle der Schmerz durch seinen Kopf, so dass er kurz auf die Zähne biss, um ihn auszuhalten. Der Schmerz wirbelte durch seine Hirnlappen und erzeugte ein kleines Beben in seiner linken Kopfhälfte. Degowski biss fester zu. So wie damals, wenn er sich unter denSchlägen so lange ganz klein und fühllos machte, bis er tatsächlich nichts mehr zu fühlen schien.
    Für den Moment war im Bus wieder alles ruhig. Die ausgelassene Stimmung, die eben noch geherrscht hatte, die verteilten Brötchen und kalten Getränke, die sie sich und den Geiseln aus der Raststätte hatten kommen lassen, war jäh umgeschlagen. Alle warteten darauf, dass die Marion gemeinsam mit der Ines und den drei anderen Frauen von der Toilette zurückkam und sie weiterfahren konnten.
    Degowski warf einen Blick auf die Uhr. Inzwischen war die seit acht Minuten da draußen. Der Schmerz in seinem Kopf sackte als alarmierender Druck hinunter in seinen Magen, und er wirbelte herum und rief zu Rösner, der neben dem Fahrer stand: »Da is was faul, Hanusch! Wieso kommt die Marion nich zurück?« Im selben Moment hörte Rösner einen der draußen vor dem Bus stehenden Reporter sagen: »Die haben die Rösner-Freundin geschnappt.«
    »Wat is, wat sachste da?«, rief Rösner und richtete den Colt auf den Mann. Der blieb stehen, sah Rösner an und rief: »Wer? Ich?«
    Peter Ahrens trat an den Bus heran und sagte, weil er spürte, dass Rösner kurz davor war, die Nerven zu verlieren: »Unsinn! Die Marion ist jeden Moment wieder da. Ganz sicher!«
    Rösner schien ihn überhaupt nicht

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