Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
tränenerstickter Stimme »Vater, hörst du mich? Vater!« sagen. Als sie eine halbe Stunde später wieder in der Ankergasse ankamen, war Rachael verschwunden. Auf dem Bett, gegen das Kopfkissen gelehnt, lag das Cover der Pink-Floyd-LP »Wish You were Here«.
***
Langsam kam er zu sich, kniff aber, geblendet von der Helligkeit, die Augen sofort wieder zu. Ihm war, als strahlten mehrere Sonnen gleichzeitig auf ihn herab. Hatte er eben von Sonnen geträumt?
Kirchner blinzelte ein paarmal und starrte schließlich furchtlos in die Helligkeit. Und da begriff er, dass es sich nicht um Gestirne handelte, sondern um die sternförmig an der Decke angebrachten Halogenlampen des Besprechungsraums im Präsidium, auf dessen Boden er die letzten zwei Stunden zwischen all den von ihm bekritzelten Blättern gelegen und geschlafen hatte.
Er setzte sich auf, strich sich übers Haar und sah sich im Raumum. Seine Uhr zeigte zwanzig Minuten vor elf. Zwei Stunden war er hier und hoffte, dass niemand ihn gesehen hatte, auf dem Boden liegend wie ein verrückt gewordener Forscher, umgeben von seinen wilden, rätselhaften Kritzeleien.
In Windeseile sammelte er die Blätter ein, schob den Flipchart zurück an seinen Platz, löschte das Licht und ging, mit dem Packen unter dem Arm, zum Aufzug.
Als er den Diplomat vom Hof lenkte, musste Kirchner plötzlich an Robert denken, dem er kein guter Vater war, und fragte sich, was der später über ihn sagen würde, wenn er einmal erwachsen war und auf seine Kindheit zurückblickte.
Er hatte einmal gehofft, sich aus den Bausteinen, die ihm das Leben zuspielte, eine Existenz aufbauen zu können, die den Stürmen, die das Ganze früher oder später unweigerlich mit sich brachte, erfolgreich zu trotzen vermochte. Er traf Claudia, sie heirateten und bezogen eine gemeinsame Wohnung in Dortmunds Osten, die sie liebevoll einrichtete. Und mit Roberts Geburt sah es tatsächlich eine Zeitlang so aus, als bildeten sie gemeinsam einen magischen unzerstörbaren Kreis. Claudia kehrte nach einem Jahr wieder in den Schuldienst zurück, und Kirchner trieb seine Karriere bei der Polizei weiter engagiert voran.
Er dachte an den ersten Hollandurlaub mit Claudia und dem Jungen zurück, in Katwijk aan Zee. Robert war damals zwei Jahre alt, ein kleiner wackliger Strandläufer im roten Anorak und dazu passenden roten Gummistiefeln, der im dicht fallenden Regen am Strand den Möwen nachlief und mit seiner grünen Plastikschaufel nimmermüde den Sand umgrub.
Damals war er auf dem Sprung in die erste Sondereinheit der Kripo Dortmund, die RAF machte das Land unsicher, und Leute wie Kirchner, die hart, aber besonnen vorgingen, gewannen schnell an Profil. Bald eilte ihm der Ruf eines wendigen Geistes voraus, der strategisch denken konnte und Gefahrensituationen blitzschnell erfasste. Doch je schneller er in der Hierarchie derauf Terrorismusabwehr spezialisierten Sondereinheit aufstieg, womit seine Verantwortung und seine Einsatzzeiten deutlich zunahmen, desto häufiger kam es vor, dass Claudia und Robert abends vergeblich auf seine Heimkehr warteten. Bis Claudia und er sich mehr und mehr voneinander entfernten, es immer häufiger zu Spannungen und bald zu heftigen Streits zwischen ihnen kam und sie ihm schließlich eines Abends bei einem Glas Weißwein offenbarte, sich in einen Kollegen verliebt zu haben.
Eine halbe Stunde später streckte er sich neben Barbara aus, die ins Laken eingedreht lag. Das Dunkel war erfüllt von ihren Atemgeräuschen. Doch weil er auch nach mehrmaligem Versuch, im Gleichklang mit ihren tiefen und stimulierend gleichmäßigen Atemzügen einzuschlafen, keine Ruhe fand, stand er wieder auf, lief in die Küche und nahm eine Flasche Bier aus dem Eisschrank. Er öffnete die Flasche und schaltete das Radio ein. Es lief das ARD-Nachtprogramm, es kam in dieser Nacht vom NDR. Albert Hammond sang seinen Hit »It Never Rains in Southern California« aus dem Jahr 1972.
Damals, Anfang der siebziger Jahre, hatte Kirchner von einer Karriere als Schwimmer geträumt und winters wie sommers die meiste Zeit im Schwimmbad zugebracht. In seinem Zimmer hing ein Poster von Mark »The Shark« Spitz an der Wand, der 1972 bei den Olympischen Spielen in München sieben Goldmedaillen gewonnen und noch dazu diverse Weltrekorde aufgestellt hatte. Spitz trug auf dem Poster eine Stars & Stripes-Badehose, und Kirchner war erfolglos durch sämtliche Dortmunder Sportgeschäfte gezogen, um eine ebensolche Badehose zu finden. Dann
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