Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
jedes Mal eine kleine Süßigkeit auf sie wartete. Mit dem Einsetzen der Pubertät war ihr Verhältnis deutlich abgekühlt.
Einmal blieb der Vater, sie war damals fünfzehn oder sechzehn, tagelang verschwunden, und ihre Mutter hatte mit dem Gedanken gespielt, ihn bei der Polizei als vermisst zu melden. Später, nachdem er von Gleisarbeitern gefunden worden war, stellte sich heraus, dass er mit dem Jaguar seines Chefs in angetrunkenem Zustand einen Unfall verursacht hatte. Spätnachts hatte er mit dem rechten Kotflügel einen Baum gestreift und war davongefahren. Das demolierte Fahrzeug hatte er in den Auen der Hute abgestellt und sich verängstigt und verwirrt in einem auf einem Rangiergleis abgestellten Zug versteckt.
Diese Aktion kostete ihn die Anstellung beim Grafen. Zudem entzog man ihm wegen Fahrerflucht für ein Jahr den Führerschein.Daraufhin sah er sich, der gelernte Chauffeur, so lange erfolglos nach einer neuen Anstellung um, die seinen Fähigkeiten entsprach, bis er schließlich bei der GVG Industrie-Betonbau GmbH als Pförtner unterkam, wo er bis zu seiner Pension blieb. Da hatte Chris ihn bereits aus den Augen verloren. Und als er sein Leben irgendwann unter die Erde verlegte, die Tage entweder dösend in seinem Ohrensessel zubrachte oder über die Oldenburger Flohmärkte streifte und anfing, manisch Artikel aus der Nordwest-Zeitung auszuschneiden und, mit handschriftlichen und zumeist beißenden Kommentaren versehen, an Gott und die Welt zu schicken, da schämte sie sich nur noch für ihren Vater. Gleichgültig aber wurde er ihr nie, selbst wenn die gelegentlichen Besuche, die sie ihm abstattete, meist im Streit endeten und sie traurig wieder nach Bremen zurückfuhr und sich im Speisewagen mit Sekt betrank.
Und dann ohrfeigte er auf einer Wahlveranstaltung der SPD den amtierenden Oldenburger Oberbürgermeister Hans Fleischer, weil der ankündigte, das Areal, auf dem sich der Fliegerhorst befand, in einen sogenannten »Emser« Freizeit- und Erlebnispark zu verwandeln, um den Freizeitwert der Stadt und der gesamten Region zu erhöhen. Niemand verstand damals seine Tat. Fleischer erstattete Anzeige wegen Körperverletzung, und Leo Mahler geriet ins Visier der Boulevardreporter. Zunächst klingelte es unentwegt an der Haustür, doch ihr Vater weigerte sich, mit jemandem über seine Tat zu reden. Dann läutete stundenlang das Telefon. Bis er den Hörer danebenlegte. Daraufhin belagerten die Reporter ihre Haustür, kletterten auf die Vorgartenmauer, fotografierten die Fenster, riefen durch den Briefschlitz und hinterließen handschriftliche Nachrichten auf der Fußmatte.
Es war wie ein Naturgesetz: Ein Kind wurde entführt – und die Journalisten umzingelten das Haus der Eltern. Ein Mörder kam vor Gericht – und die Journalisten stürmten das Gerichtsgebäude.Und nun war ein Bus voller Menschen gekapert worden – und die Journalisten interviewten die Kidnapper. Damals entwickelte Chris einen regelrechten Hass auf die Männer mit ihren Kameras und ertappte sich noch Tage später, nachdem die Reporter längst abgezogen waren, dabei, wie sie sich ängstlich, auf der Türschwelle stehend, umsah, ehe sie das Haus verließ.
Doch rückblickend bekam die damals unbegreifliche Tat ihres Vaters einen Sinn. Fleischers Ankündigung, das, was nach dem Krieg vom Fliegerhorst erhalten geblieben war, abreißen zu lassen, empfand Leo Mahler offenbar als persönliche Bedrohung. Die Vorstellung, dass mit dem Verschwinden des »Kumpels«, so hatten sie damals als junge Flieger ihren Horst genannt, auch seine Erinnerungen an seine damalige Zeit ausgelöscht werden sollten, musste unerträglich für ihn gewesen sein. Dass es dann nie zu dem von Hans Fleischer geplanten Abriss des Horsts kam, musste Leo Mahler als große Genugtuung empfunden und seiner Ohrfeige zugeschrieben haben. An der damals jäh entfachten Antipathie seiner Tochter gegen Journalisten allerdings änderte das nichts mehr. Seither verachtete Chris diese Typen, die in ihrer Sensationsgier schamlos in die Briefschlitze anderer Leute spähten und tagelang deren Vorgärten belagerten.
Sie hoffte, dass Wanda, das Aas, inzwischen einen Arzt gerufen hatte. Denn plötzlich setzte sich der schreckliche Gedanke in ihr fest, ihr Vater liege nun tatsächlich reglos in seinem Sessel. Unbeachtet von Wanda, die nur ihren Reggae-Kram, ihre Illustrierten und die verdammten Nüsse im Kopf hatte.
»Mein Vater ist heute Mittag die Treppe runtergefallen«, sagte Chris
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