Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
wahrzunehmen, sondern rief: »Das hätten die verfluchten Schweine nicht machen sollen, diese dreckigen!« Er machte Degowski, der neben Silke Bischoff stand, ein Zeichen, indem er kurz nickte. Daraufhin packte der die kleine Tatiana und riss sie aus den Armen ihres Bruders von ihrem Sitz.
Die Unruhe im Bus war bis nach draußen zu spüren und übertrug sich auf die Journalisten. Alle redeten durcheinander. Rösner schrie und lief zwischen den auf ihren Sitzen kauernden Geiseln ruhelos hin und her.
Peter Ahrens, der in den Bus gestiegen war, ging auf Degowski zu und versuchte, ihn zu beruhigen. Redete langsam und freundlich auf ihn ein. Doch Degowski streckte ihm seine Armbanduhr hin und rief: »Wenn die Marion nicht in zwei Minuten wieder da ist, wird jemand erschossen!«
»Okay, ich rede mit denen.« Ahrens verließ den Bus und steuerte zwischen all den Journalisten auf einen der Zivilbeamten zu, um ihn zu bewegen, die Festgenommene schnell wieder freizulassen.
»Wenn die nicht in zwei Minuten wieder im Bus ist, erschießen die das Mädchen!«, sagte er. Über die Schulter des Beamten hinweg konnte er sehen, wie in dem hellerleuchteten Toilettengang SEK-Leute in Zivil standen, die Walkie-Talkies in den Händen hielten und aufgeregt miteinander sprachen. Er lief zurück zum Bus und rief Rösner zu: »Die lassen die wieder frei! Die ist auf dem Weg. Die ist jeden Moment wieder da!«
Degowski drückte der kleinen Italienerin den Colt an die Schläfe. Da sprang ihr Bruder von seinem Sitz auf und zerrte an seiner Schwester, um sie aus Degowskis Umklammerung zu befreien. Alle Blicke waren nun auf das Mädchen und seinen Bruder gerichtet.
Und dann passierte es, dann löste sich der Schuss, laut und unwirklich, und das Mädchen spürte, wie die Arme seines Bruders schlagartig erschlafften, wie sie sie losließen und an ihr abglitten und wie sein Körper wie in Zeitlupe an ihr herabsank. Wie sie ihn verlor.
Peter Ahrens, der das Ganze aus einer Entfernung von nicht einmal einem Meter beobachtete, presste die zitternde Oberlippe auf die untere, er spürte, wie sein eben noch offenstehender Mund sich schloss und horchte auf die Stille nach dem Schuss, aus der sich das anklagende Röcheln des sterbenden Emanuele erhob.
Er legte seine Hand über die Augen. Sie brannten, und erdrückte die Finger dagegen. In der Schwärze flimmerten Farben und blinkten Lichter. Er wollte darin versinken, der Wirklichkeit entfliehen, sich für immer hinter seinen Augenlidern verschanzen. Er spürte einen schmerzhaften Stoß gegen seine Wange und riss die Augen auf. Degowski drückte seinen Colt dagegen und drohte mit weit aufgerissenen Augen: »Und du bist als Nächster dran!«
Die Kugel war in den Kopf des Jungen eingedrungen, ohne dass man es sah. Blitzschnell. Dann, leicht verzögert, schrie eine Frau auf, und ein Mann murmelte hinter vorgehaltener Hand: »O mein Gott, o mein Gott.«
Peter Ahrens musste an die Bilder denken, die er von Emanuele gemacht hatte, am frühen Abend. Auf ihnen würde der Junge für immer auf seinem Platz sitzen und ihn linkisch anlächeln, den Arm schützend um seine Schwester gelegt. Stumm, ohne zu altern. Mit einem Blick voller Leben.
Sofort kamen ihm seine Fotos von Jasmin in den Sinn. Ihr erstes Lachen. Ihre ersten Schritte. Der erste Kindergartentag, die ersten Geburtstage. Und auf einmal spürte er nur noch eine große Leere.
Degowski, in dessen Ohren sich das Röcheln des Jungen zu einem Kreischen steigerte, schrie: »Raus mit ihm! Schafft ihn raus hier! Schnell! Na los!« Adam Jalowy öffnete die vordere Einstiegstür, und Peter Ahrens legte seine Kameras auf einen freien Sitz und packte den reglosen Jungen an den Schultern. Gemeinsam mit einem Kollegen trug er ihn hinaus, wobei sein Kopf gegen die Stufen schlug, und legte ihn auf die Erde. Um den Kopf des Jungen bildete sich sofort eine Blutlache.
»Wir sollen nicht helfen, wir sollen berichten«, hatte Ahrens einmal die Französin Catherine Leroy, die 1966 als 21-Jährige für AP in Vietnam fotografiert und dabei Fallschirmjäger der 173. US-Luftlandebrigade bei der gefährlichen Operation Junction City begleitet hatte, in der Talkshow 3 nach 9 im Fernsehensagen hören. Das entsprach damals seiner festen Überzeugung. Nun aber, Jahre später und mit Blick auf den schwerverletzt am Boden liegenden Jungen, verstand er diesen Satz plötzlich nicht mehr. Alles war durcheinandergeraten, aus seiner Balance gestürzt. Ganz plötzlich und wie aus dem
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