Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
Nichts. Seine Gefühle. Seine Gedanken. Alles, was bis eben unverrückbar und gesichert schien. Und damit so selbstverständlich abrufbar war wie eine tausendmal ohne zu überlegen ausgeführte Handbewegung. Das ging nun nicht mehr.
Er bastelte, seit er fotografierte, an der Wahrheit herum mit seinen Fotos, machte sie und polierte sie anschließend im Labor. Nun dachte er: Was war eigentlich die Wahrheit? Hier? Jetzt, in diesen Minuten? Dass zwei durchgedrehte Verbrecher einem Jungen in den Kopf schossen, weil sie mit ihren Nerven am Ende waren? Dass die Polizei sie mit ihrem Fehlverhalten dazu trieb? Dass Emanuele sterben würde, wenn nicht bald Hilfe kam? Oder war da vielleicht nicht noch etwas anderes, viel Wichtigeres, das die Bilder nicht zeigen würden? Und was sie alle, auch er, übersahen? Und nie begriffen hatten? Nie begreifen würden?
Für Ahrens aber war im Moment alles bloß noch Lüge. Inszeniert und falsch. Er dachte: Es ist wie in den Tierfilmen, die Jasmin so gern schaut, über das komplexe Leben im Dschungel oder in der Wüste oder der Savanne. Leben und Sterben. Fressen und Gefressenwerden. Darum ging es. Wie brutal das Leben ist und wie faszinierend und schön. Immer in dieser Anspannung, nicht zu wissen, wer überlebt und wer dran glauben muss. Das Drama des Überlebenskampfes. Das wollen die Leute sehen. Das fesselt sie.
Er spähte wie benommen in den Nebel der ruhelos aufzuckenden Blitzlichter und der blendenden Scheinwerfer, verfiel in eine Starre, die zugleich tröstlich und furchtbar war. Alle redeten weiter aufgeregt durcheinander und bildeten einen offenen Kreis um Emanuele. In das Zischeln der Kameras und das Surren derPower-Winder hinein hörte er einen Kollegen rufen: »Dreht ihn um, dreht ihn auf die Seite, damit wir ihn besser drauf kriegen.« Und ein anderer rief: »Wie gut, dass ich das extreme Weitwinkel drauf habe.« Und dann sah er, wie ein Kollege den Kopf des Jungen anhob und ins Licht der Scheinwerfer drehte, damit man ihn besser fotografieren konnte. Im selben Moment kam Marion auf den Bus zu und stieg ein.
Ahrens hatte auf einmal das Gefühl, das Geschehen wie durch das Auge einer hoch über der Szenerie angebrachten Kamera zu sehen, wie abgeschnitten davon zu sein, und dabei dachte er: Wir verändern uns gerade für immer. Wir alle. Und nicht zum Guten, nein, sicher nicht. Jetzt, in diesen Sekunden. Das ganze Land. Wir, die wir bei diesem Wahnsinn mitmachen. Und alle anderen, die uns am Fernseher dabei zusehen.
Im selben Moment, die Uhren zeigten 23 Uhr 09, schlossen sich zur Überraschung aller klappernd die Türen, und der Bus fuhr los. Reglos starrte Peter Ahrens ihm hinterher. Dann griff er sich reflexartig an die Brust. Im Bus lagen seine Kameras!
***
Fffffffftttt. Rachael hielt den Knopf der Sprühdüse gedrückt, und aus dem feinen schwarzen Nebel, welcher der Dose entwich, formte sich ihren Bewegungen entsprechend an der weiß getünchten Grundstücksmauer das Wort GEISELN.
Sie trat einen Schritt zurück und las: FREIHEIT FÜR DIE BREMER GEISELN. Sie schüttelte die Dose ein paarmal, so dass das spitze Klickern der kleinen Kugel, die sich in ihrem Innern befand, erklang, und vollendete ihre Botschaft mit einem von einem dicken Ausrufezeichen gekrönten JETZT! Dann grinste sie Marc an, als wollte sie sagen: Siehst du. Wir können was tun!
Marc sah sie bewundernd an. Sie zogen weiter Richtung Innenstadt. Geeignete Stellen für ihre Botschaften waren nicht schwer zu finden. Fassaden von Banken, Schaufensterflächen,öffentliche Gebäude, alles, was aus Stein und Glas und gut sichtbar war.
Anfangs blickten sie sich immer wieder ängstlich um, denn obgleich um diese Uhrzeit kaum noch jemand in den Seitenstraßen unterwegs war, konnte doch jeden Moment eine Polizeistreife um die Ecke biegen. Bald aber waren ihr Glücksgefühl und der Spaß, den sie bei jeder weiteren Botschaft, die sie hinterließen, hatten, stärker und größer als ihre Angst, und Marc steigerte sich in einen regelrechten Sprührausch, hinter dem alles andere zurückblieb: die Sorge um den Großvater, seine moralischen Skrupel und auch die Ungewissheit darüber, was Rachaels plötzliche Rückkehr zu bedeuten hatte. Alles.
Sie hinterließen ihre Parolen am Hauptpostamt, an den Scheiben der »Hamburgerstation« in der Krämerstraße und am Busbahnhof am Freiheitsplatz, zierten die dunkle Außenmauer des Palette-Kinos mit dem in Blau gesprayten Satz »Die Polizei ist gefährlicher, als du
Weitere Kostenlose Bücher