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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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denkst!« und adelten die karminrote Steinfassade des Rathauses mit dem Spruch »Don’t support blah blah blah!«. Und je länger sie sprayten, desto mehr verloren sie ihre eigentliche Absicht aus den Augen und ließen ihrer Phantasie freien Lauf. Schrieben Losungen wie »Keine Macht für Niemand«, »Follow Your Dreams«, den Einstein-Satz »Das Schönste, was wir erleben können, ist das Mysteriöse« oder »Streetart is not for sale« an die Wände. An der Dresdner Bank am Marktplatz sprayte Rachael »Kapitalismus ist heilbar!« an die schwere metallene Eingangstür. Sie kamen sich vor wie losgelassene Rächer, die Vergeltung forderten und sich berauschten an ihrem phantasievollen Tun. Ohne Angst und ganz aufeinander bezogen.
    Zuletzt stellten sie ihre Räder in der Hammerstraße vor dem Verlagshaus des Hanauer Anzeigers ab und schrieben in riesigen roten Lettern »Freiheit für Silke Bischoff und die anderen! Weg mit der Schweinepresse und ihren skrupellosen Machern!« andie große Glasfront, hinter der die Seiten der letzten Ausgabe aushingen. Einmal bog ein Wagen um die Ecke, aus dem wummernde Bässe dröhnten, wenig später fuhr eine Gruppe grölender Mofafahrer vorbei, die jedoch keinerlei Notiz von ihnen nahmen.
    Sie arbeiteten jeweils mit zwei Dosen von rechts nach links aufeinander zu. Als sie sich zwischen dem Ausrufezeichen hinter »anderen« und dem »W« von »Weg« trafen, klatschten sie sich jubelnd ab wie zwei Basketballer, deren freche Kombination zu dem alles entscheidenden Korb geführt hatte. Dann packten sie eilig ihre Sachen zusammen und radelten am Hertie vorbei in Richtung Krämerstraße. Immer noch flirrte die Hitze in den verlassenen Straßen. Hanau glich einer Geisterstadt.
    Während sie über die langgestreckte, schlecht beleuchtete Philippsruher Allee nach Kesselstadt zurückfuhren, wechselten sie immer wieder verliebte Blicke. Marc malte sich aus, was angesichts ihrer Botschaften in Kürze in der Stadt los sein würde und was der Hanauer Anzeiger wohl zu der Attacke gegen das Verlagshaus in der Hammerstraße schriebe. Bei der Vorstellung, dass Jürgen Wandrey, der sich leicht ausrechnen konnte, wer dahintersteckte, ihre Parolen las, durchrieselte ihn ein Glücksgefühl.
    Als sie eine Viertelstunde später in seinem dunklen Zimmer engumschlungen beieinanderlagen, »I Want You« von den Beatles lief, und sie sich küssten und streichelten, dachte Marc, dass seine Wut und seine Empörung über das, was er stundenlang im Fernsehen tatenlos hatte mitansehen müssen, plötzlich durch sie, durch Rachael, eine Richtung und einen Sinn erhalten hatte. Dafür liebte er sie. Vielleicht stärker denn je. Seine Hände tasteten sich voran, er spürte den Schweiß auf ihrem Rücken, im Dunkel glitten seine Finger über ihre Brüste. Sie griff nach seinem Kopf und presste ihre Lippen auf seine. Dann nahm sie ihn in sich auf.
    Marc erwachte vom stürmischen Läuten der Türklingel. Kurz darauf hörte er die vom Schlaf schweren Schritte des Vaters in der Diele, und er kam zu sich. Er erhob sich und sah sich kurz nach der Schlafenden um. Leise schob er die Tür auf und glitt hinaus. Nach ein paar Schritten hielt er inne und lauschte auf die Stimme seines Vaters, der in der Diele unwirsch gegen das nicht nachlassende Türklingeln rief: »Ja, ja, ist ja gut, ich komme ja schon!«
    Der Vater erreichte die Tür, und im nächsten Moment hörte Marc, wie das kleine Hoftor zufiel und der Vater im Treppenhaus rief: »Na wartet, ihr Schweine! Na, wartet bloß!«
    ***
    Eines Abends in Polen hatte Karoly ihm, nachdem er von einer Kundgebung der Polska Lewica, der Polnischen Linken, nach Hause gekommen war, mit flackerndem Blick erzählt, dass er hinterher mitangesehen habe, wie sie am Bahnhof einen Ultra-Nationalisten zusammengeschlagen und kurz darauf mit einer alten Militärpistole auf ihn geschossen hätten.
    Adam glaubte seinem Bruder zunächst nicht und hielt dessen Gerede für Angeberei. Als Polskie Radio Katowice am nächsten Tag über die Verhaftung eines 22-jährigen Mannes aus Warschau berichtete, der einen anderen mit einer Schusswaffe lebensgefährlich verletzt hatte, bestürmte Adam Karoly so lange mit seinen Fragen, bis der ihm den Ablauf des Vorfalls, so gut er konnte, beschrieb. Anschließend träumte Adam über Tage hinweg von dem Niedergeschossenen. Und ein paarmal, wenn er nachts vom Geknatter der mit ihren Junaks durch die Straßen fahrenden Rocker erwachte, hatte er das Gefühl, selbst

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