Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
bedrückende Unmittelbarkeit, so, als müsste er nur den Arm ausstrecken, um die junge Frau aus ihrer lebensbedrohlichen Lage zu befreien, herauslösen wie eine ungefährliche Rose aus einem Strauß vergifteter Blumen.
Voller Bewunderung sah Bertram in das weiche, offene Gesicht der jungen Frau, die trotz der Lage, in der sie sich befand, tapfer Fragen des Reporters beantwortete. Und dabei dachte er: Wie viele Stunden habe ich, genau wie der Typ da mit seinem Mikro, darauf verschwendet, Opfern, Dummköpfen, Tätern oder Wahnsinnigen mein Mikro hinzuhalten, um ihnen für ein Millionenpublikum ihre Meinung zu entlocken?
Bertram realisierte, was alles an ihm vorbeigegangen war, was er verpasst hatte, während er für ein paar Stunden in sein Privatlebenuntergetaucht war. So, als sei er, ähnlich wie der Held seines absoluten Lieblingsbuches »Metro 2034«, durch ein unterirdisches Reich geirrt, während oben ein blutiger Krieg ausgebrochen war.
Die Hitze hielt die Stadt weiter fest im Griff, und die Obdachlosen, die im Winter besoffen in den Eingängen des Kleiderkaufhauses Weingarten unter klammen Decken lagen, die mit ihrer bescheidenen Habe vollgestopften HL-Einkaufswagen als Sichtschutz davorgestellt, hatten es sich nun rund um die Sitzbänke gemütlich gemacht, lachten, palaverten, ließen leere Bierflaschen über den holprigen Bordstein kollern.
Als er die Haustür aufschloss und das Treppenhauslicht anging, sprang ihm eine struppige schwarze Katze entgegen, stellte ihren Schwanz auf und strich ihm ein paarmal miauend um die Beine. Er sah sie kurz an, stieg dann aber an ihr vorbei die Treppe hinauf.
Vor Jahren hatte er den Gefängnisroman eines Amerikaners über Sing-Sing gelesen, in dem davon die Rede war, dass in der Anstalt auf 2000 Gefangene 4000 Katzen kämen. Der Autor hatte sie als unberechenbare Bestien beschrieben, vor denen niemand sicher war und die sich in ihrem unstillbaren Hunger manchmal gegenseitig auffraßen. Bertram hatte sich damals vorzustellen versucht, wie es wohl sein müsste, im Schlaf von einer Horde räudiger Katzen überfallen und angenagt zu werden.
Oben angekommen, beugte er sich übers Treppengeländer und spähte hinunter. Von der Katze war nichts mehr zu sehen. Er öffnete die Wohnungstür, ging in die Küche und zog die Kühlschranktür auf. Trocken-kalte Luft schlug ihm entgegen. Er schloss kurz die Augen und stellte sich vor, eine hübsche Eskimofrau hauche ihn an. Dann griff er nach der Vittel-Flasche und trank gierig daraus. Zuletzt ließ er sich das eiskalte Wasser über den Kopf, in den Nacken und über die pulsierenden Handgelenke rinnen. Als er in seinem Arbeitszimmer das Fenster öffnete,fiel die noch immer offenstehende Wohnungstür mit einem Knall ins Schloss.
Nachdem er seinen Anrufbeantworter abgehört und Sylvias Nachricht (die Kleine war einfach klasse!) erhalten hatte, was um halb acht Aufstehen bedeutete, sofern er nicht direkt aus dem Krankenhaus in die Redaktion fuhr, ging er unter die Dusche und aalte sich in den eiskalt herausschießenden Wasserstrahlen wie ein auf dem Rücken liegender Rüde, der sich in den im Gras zurückgelassenen Duftspuren einer läufigen Hündin wälzt. Anschließend sank er aufs Bett und trank in kleinen Schlucken den letzten Rest Wasser.
Zum offenen Hinterhoffenster kam ein kleiner Nachtfalter ins Zimmer geflogen, eine Gamma-Eule, Autographa gamma. Hundekopfmotte hatte er als Junge die Eule wegen der beiden kleinen silbernen Dreiecke auf den Vorderflügeln für sich genannt. Denn genau betrachtet, erinnerte der Falter dadurch an einen Hundekopf mit zwei winzigen, eishellen Augen.
Seit er denken konnte, liebte er Schmetterlinge. Als Sechsjähriger war er gemeinsam mit seiner besten Freundin, der Tochter eines Bäckers, durch die Hirschhorner Wiesen gestreift, um mit seinem Netz die dort häufig anzutreffenden Schachbrettfalter zu fangen, die er so mochte.
Später, während einer Reise ins Tessin, war er auf einem Autobahnrastplatz kurzerhand in den Wagen eines englischen Ehepaars eingedrungen, einen sandfarbenen Morris, weil er gesehen hatte, dass sich ein Erdbeerbaumfalter, Charaxes jasius, in dessen aufgeheizten Innenraum verirrt hatte und hinter der gewölbten Heckscheibe ruhelos auf und ab irrte. An dem verdutzen Paar vorbei, das bei geöffneten Wagentüren gymnastische Dehnübungen machte, um die vom langen Fahren steif gewordenen Glieder zu bewegen, war er in dessen Wagen gestürzt und hatte den Falter mit seinem Netz
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