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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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einen schmerzhaften Druck oberhalb der Bronchien. Das Adrenalin, das noch vor einer Stunde sämtliche Ängste unterdrückt hatte, war an irgendeiner lecken Stelle seines ermatteten Körpers abgeflossen wie schmutziges Waschwasser im Rinnstein.
    Kraftlos ließ er den Kopf nach hinten gegen die Kopfstütze sinken, schloss die Augen und sog die zum offenen Fenster hereinströmende Nachtluft tief in seine schmerzenden Lungen ein. Dabei fragte er sich, wie alles verlaufen wäre, wenn die Scharlow keinen Unfall gehabt und wie geplant an seiner Stelle den Job übernommen hätte. Vielleicht würde der kleine Emanuele dann noch leben, weil alles einer anderen Logik gefolgt wäre.
    Manchmal wünscht man sich, das Leben zurückspulen zu können, um es im alles entscheidenden Moment in eine andere Richtung zu lenken. Und wenn man dann zurückgeht, denkt man: Wenn ich hier etwas anderes getan oder gesagt hätte, dann … Doch welcher wäre der richtige Moment gewesen, um das Schicksal in eine andere Bahn zu lenken?, fragte sich Peter Ahrens. Die erste Begegnung mit Rösner am Bus vielleicht, als er ihm den Colt hätte entreißen können? Oder der Moment, in dem Rösner mit der Pistole auf dem Schoß im Wagen des Journalisten saß und telefonierte? Hätte er da handeln und ihn entwaffnen müssen? Vielleicht. Doch was wäre dann gewesen? Hätten die SEK-Leute genau in jener Sekunde bereitgestanden, um die Sache zu übernehmen? Und wie hätte Degowski reagiert? Hätte er allein weitergemacht? Wäre er ausgeflippt und hätte weitere Geiseln getötet? Oder hätte er aufgegeben?
    Ahrens beugte sich vor, öffnete das Handschuhfach, nahm eine Kassette heraus, schob den Schlüssel ins Zündschloss und vollführte eine Vierteldrehung. Anschließend drückte er die Kassette in den Recorder. Er hatte eine alte Lynyrd-Skynyrd-Aufnahme erwischt, Ronnie Van Zants ungeschliffener Sprechgesang ertönte. Den meisten fiel bei Lynyrd Skynyrd bloß »Sweet Home Alabama« ein. Doch »Free Bird« oder »Simple Man« waren in seinen Augen keinen Deut schlechter.
    Er lehnte sich zurück, erfüllt von einer so noch nie erlebten schmerzhaften Klarheit, und sah hinüber zu dem erleuchteten Toilettengang, wo mit Marions sinnloser Verhaftung die Ereignissezu eskalieren begannen. Er dachte an die Geiseln, dachte an ihre für immer beschädigten Leben, die, wenn alles vorbei wäre, trotzdem irgendwie weitergehen mussten. Nur wie?
    Nachdem irgendwann ein Krankenwagen eingetroffen war und man Emanuele endlich weggebracht hatte, höchstwahrscheinlich zu spät, sperrte die Polizei das Areal weiträumig ab. Selbst die letzten Gaffer hatten sich inzwischen verzogen. Nur das im Nachtwind leise surrende Absperrband und der Blutfleck auf dem Bordstein erinnerten an das, was sich eine knappe Stunde zuvor hier abgespielt hatte.
    Die Uhr in seinem Armaturenbrett zeigte 0 Uhr 10. Es war Donnerstag, der 18. August, und aus den Lautsprechern erklang Lynyrd Skynyrds »Tuesday’s Gone«. »And Wednesday too«, murmelte er, ließ den Motor an und legte den Rückwärtsgang ein. Er wollte nur noch eines: nach Hause zu seiner Familie, die Augen zumachen und schlafen. Und alles vergessen.

14
    dpa – Basisdienst, Hamburg
    Geiselnehmer – Gladbeck – Seit anderthalb Tagen
in der Gewalt der Gangster
    Gladbeck (dpa) – Manfred Becker von der Gladbecker Polizeisonderkommission am Mittwochmorgen: »Wir kennen zur Zeit das Schicksal der Geiseln nicht, wir hoffen aber, daß die Geiselnehmer sich endlich entschließen, ihre Geiseln freizulassen.«

Als er das Number One verließ und den menschenleeren Friesenplatz überquerte, drangen aus den offenen Fenstern des Steakhauses und der kleinen spanischen Bodega an der Ecke Musik und Gelächter. Er war müde, sein Akku leer. Seine Kleider stanken nach Rauch. Beim Gehen stieß ihm das Bier sauer auf. Trotzdem blieb er vor dem Elektroladen, in dem er manchmal Batterien für sein Diktiergerät kaufte, stehen, weil hinter dessen vergitterter Schaufensterscheibe zwischen Kofferradios, Toastern und Bügeleisen ein paar übereinandergestapelte Fernseher liefen, über deren Mattscheiben Bilder aus Bremen flimmerten. Gebannt starrte er auf die grobkörnigen Schwarzweißbilder.
    Zu sehen war einer der Geiselgangster, der, vor einer Mauer stehend, einer jungen, hellblonden Frau seinen Revolver an den Hals drückte und dabei in ein ihm hingestrecktes Reportermikrophon redete. Die nur von einer Kameraleuchte illuminierte Szenerie vermittelte eine

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