Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
dachte er nun: Herr, Gott, verschon den Großvater, und nimm die anderen.
Marc starrte in sein Bierglas, an dessen Rändern sich der Schaum in Form kleiner, heller Schlieren absetzte. Früher saß der Großvater, mit der schwarz-grau gestreiften Strickjacke bekleidet, die er noch viel später auf unzähligen Fotos trug, gut gelaunt im Wohnzimmer im Sessel, hatte das eine Bein über das andere geschlagen und erzählte die Geschichte seiner gestromten Greyhoundhündin Alma.
Von den ersten Fliegerangriffen auf Hanau an, die im Dezember 1942 begannen, hatte er die Hündin gegen das geltende Verbot,Tiere mitzuführen, immer wieder mit in den Luftschutzkeller genommen, indem er sie in einem alten Segeltuchkoffer hineinschmuggelte. Tagelang hatte er mit dem Tier das lautlose Ausharren in dem durch kleine Löcher belüfteten Koffer geübt, um es auf den Ernstfall vorzubereiten. Denn lieber wäre Gustav Steiner gemeinsam mit seiner Hündin gestorben, als sie allein in seiner Wohnung zurückzulassen. Immer wieder hatte er das Tier ermahnt: »Wenn du auch nur einmal bellst oder knurrst, kostet es dich das Leben!« Und Alma verstand. Bis zur letzten Angriffswelle harrte sie aus und überlebte so in ihrem Segeltuchversteck sämtliche Angriff auf Hanau, das im Bombenhagel der Alliierten nahezu vollkommen zerstört wurde.
Später zeigte der Großvater Marc alte, an den hellen Rändern gezackte Schwarzweißfotos von Alma nach dem Krieg. Darauf zu sehen war ein spindeldürres Wesen mit langen Beinen, kräftigem Brustkorb und einem keilförmigen, auffallend kleinen Kopf, an dessen Seiten zwei dunkle Knopfaugen freundlich leuchteten. Immer wieder hatte der Großvater Almas Geschichte so oder in ähnlich dramatischer Form bei Gesellschaften oder Familientreffen zum Besten gegeben. Und selbst als die Krankheit in seinem Gehirn bereits ein irreparables Durcheinander angerichtet hatte, wurde er es nicht müde, einen mit geradezu kindlicher Neugier anzusehen und zu fragen: »Hab ich dir eigentlich schon mal erzählt, wie meine Alma den Krieg überlebt hat?«
»Wie geht es Opa Steiner denn nun?«, fragte Rachael und holte Marc mit ihrer Frage jäh aus der Zeitschleife zurück.
»Er ringt mit dem Tod«, hörte er seinen Vater antworten und dachte wieder: Herr, Gott, verschon ihn, und nimm die anderen.
***
Anettes Polo stand vor dem Haus, in ihrem Zimmer brannte Licht. Peter Ahrens manövrierte den Wagen im Schritttempo in die Garage, schloss das Tor und spähte hinauf. Dort oben waralles, was er liebte und was er zum Leben brauchte: seine Frau und sein Kind.
Er öffnete die Haustür, zog seine Schuhe aus und legte sie unter der Garderobe in die von Anette extra dafür angeschaffte Schuhwanne, eine blaue Plastikwanne, die sie regelmäßig draußen im Garten von den Schmutzresten, die von den Schuhen abfielen, reinigte.
»Na endlich, Peter«, rief sie aus dem Schlafzimmer.
»Ja«, erwiderte er. Ja, er war wieder zu Hause.
Anette kam die Treppe herunter, bekleidet mit einem hellen Slip und einem rosafarbenen Fruit of the Loom-T-Shirt, und küsste ihn auf die Wange, wieder und wieder. Aus ihren feuchten Haaren stieg ihm der Geruch des Duschgels in die Nase. Und so von ihr gehalten und gestützt, hatte er das Gefühl, wieder in der richtigen Zeit, in der richtigen Welt angekommen zu sein.
Auf der Schwelle zur Küche lag eines von Jasmins flauschigen Stofftieren; ein blau-weißer Delphin, der ihn mit seinen starren Knopfaugen ansah. Weiter hinten, unter dem Tisch, waren Puzzleteile verstreut. Er würde Jasmin morgen nicht in die Schule schicken, sondern sie, wenn Anette gegangen wäre, irgendwann wecken, gemeinsam mit ihr den grünen Schildkrötenrucksack packen, und dann würden sie raus in die Wümmewiesen gehen und den ganzen Tag dort verbringen. Sie würden es sich schön machen da draußen, sich unter einem Baum auf eine Decke legen. Und dann würden sie aus dem Röhricht aufsteigende Vögel beobachten, eine Wasserralle vielleicht oder eine Rohrdommel. Und er würde ihr aus Hauffs Märchen vorlesen. Bis sie sagen würde, ich hab Hunger, Papa, und Durst, und sie ihr Mitgebrachtes essen und trinken würden.
Früher hatten Anette und er manchmal draußen im Ufergras miteinander geschlafen, ihr Rücken im Gras. Hinterher hatte er jedes Mal Grashalme in seiner Unterhose gefunden.
Gleich würde er hinauf in ihr Zimmer gehen und Jasmin beimSchlafen zusehen. Denn immerzu musste er an den schwerverletzten Emanuele denken und wie er seine
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