Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
Vom Netzwerk:
Glas bis zur Hälfte und schob es Marc wortlos hin.
    »Eine tote Taube?« Marc verstand nicht. »Was soll das?«
    »Sie drohen dir!«
    Aus Tonys Pizzeria gegenüber drang wie üblich laute Musik herüber. In der Jukebox lief sicher zum zwanzigsten Mal »Ella elle L’a« von France Gall. Irgendein Typ da drüben schmiss seit Tagen pausenlos seine Fünfziger in die Jukebox, um wieder und wieder dieses Lied zu hören. Wahrscheinlich, dachte Marc, ist er unglücklich verliebt. Oder eine, die so heißt, hat ihm kürzlich den Laufpass gegeben.
    »Aber die sollen nur kommen«, sagte der Vater, öffnete die zweite Flasche und goss sein eigenes Glas ebenfalls halbvoll. In dem Moment kam Rachael, bekleidet mit Jeans und T-Shirt, in die Küche und blinzelte fragend in die Runde.
    Der Vater sah kurz auf, dann trank er einen Schluck Bier, wischte sich mit dem linken Handrücken den Mund ab und sagte: »Das ist eine Kampfansage.«
    Die Musik drüben in Tonys Pizzeria verstummte kurz, Gelächter war zu hören. Doch dann erklangen schon von neuem die ersten Takte des Gall-Songs. Manchmal gingen Marc und Lenny dorthin, um im Hinterzimmer Billard zu spielen. Dann tranken sie Asbach Cola, und Marc drückte immer wieder »Maggie May« von Rod Stewart oder »Heart of Gold« von Neil Young an der Jukebox.
    »Was?«, mischte Rachael sich nun ein und nahm ebenfalls am Tisch Platz. »Was ist eine Kampfansage?«
    »Ach, nichts«, wiegelte Marc ab. »Ich hab da so ’ne Sache mit ein paar Typen laufen, und jetzt fangen die an, verrücktzuspielen.«
    »Was sind das für Typen?« Rachael ließ nicht locker, griff nach Marcs Glas und trank einen Schluck.
    »Kriminelle«, antwortete sein Vater an Marcs Stelle und blickte ihn vielsagend an. »Feige Hunde. Sie haben ihm eine tote Taube vor die Tür gelegt, um ihm Angst zu machen. Aber die sollen nur kommen.«
    In seinen Augen glitzerte eine wilde Entschlossenheit. Ganz anders als noch ein paar Stunden zuvor, nachdem sie aus dem Krankenhaus zurückgekehrt waren und der Vater vollkommen niedergeschlagen wirkte, so, als sei sein Vater bereits tot. Marc musste an die geladene Militärpistole in der Kommode in der Diele denken. Er würde sie bei nächster Gelegenheit an sich nehmen und draußen im Schuppen verstecken, damit sein Vater nicht auf dumme Gedanken kam.
    Marc suchte Rachaels Blick, denn ihm gefiel ihre Anteilnahme, so, als beträfe alles, was mit ihm zu tun hatte, wie selbstverständlich auch sie selbst. Wie nah wir uns wieder sind, nach so langer Zeit, dachte er. Und was hat sie nur dazu bewogen, zu mir zurückzukommen? Alles lief zwischen ihnen so ab, als seien sie nie getrennt gewesen. Eine tote Taube, na und!, dachte er leichthin und ließ sich von dem Glücksgefühl, das ihn bei Rachaels Anblick überkam, davontreiben.
    Auf dem Schulhof hatten sie sich das erste Mal gegenübergestanden: ein Teenager, schlaksig, mit blondem, schulterlangem Haar, und ein Mädchen in einer verwaschenen Jeansjacke mit kastanienbrauen Locken, über deren schön geschwungener Oberlippe ein kakaobrauner, pfenniggroßer Leberfleck in der grellen Frühlingssonne leuchtete. Tagelang waren sie währendder großen Hofpausen umeinanderher geschlichen. Bis es für sie irgendwann kein Entkommen mehr voreinander gab und sie ihn endlich ansprach. Danach war alles sehr schnell gegangen: eine Party, der erste Blues und schließlich auch der erste Kuss.
    Der Großvater mochte Rachael, nannte sie »meine Kleine«. Ein paarmal hatte sie den Alten allein besucht und ihm aus seinem Lieblingsbuch, dem »Schimmelreiter«, vorgelesen. Dann machte es sich der Alte auf seiner Couch bequem, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lauschte so lange mit geschlossenen Augen ihrer warmen Stimme, bis sich seine schweren, rasselnden Atemzüge in ein trockenes Schnarchen verwandelten und Rachael das zerlesene Buch zur Seite legte und leise hinaus auf den Flur entschwand, um eine Zigarette zu rauchen.
    Jetzt lag der Großvater in seinem Krankenhausbett, von leise surrenden Maschinen umstellt und von Medikamenten betäubt, die sein erregtes Hirn beruhigen sollten.
    Am Ende stürzte sich der Deichgraf Hauke Haien, der Schimmelreiter, samt Pferd ins Meer, nachdem zuvor seine Frau und auch seine Tochter für immer von den Wellen verschluckt worden waren. Unzählige Male hatte der Großvater ihm dessen letzte Worte rezitiert und dabei nachdenklich ins Leere gestarrt: »Herr, Gott, nimm mich, verschon die anderen.« In Abwandlung dieses Satzes

Weitere Kostenlose Bücher