Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
gefangen. Als er ihnen anschließend den ungewöhnlichen Fang präsentierte, erhellten sich ihre finsterenMienen, und sie lachten erleichtert. Ein andermal hatte er in Andorra einen Schwarzen Apollofalter, Parnassius mnemosyne, über Stock und Stein gejagt, war ihm zwischen Büschen hindurch und über felsige Vorsprünge hinweg nachgefolgt. Bis er plötzlich am Rand eines Abhangs stand und hinabspähte, wo in der Tiefe geräuschvoll ein Gebirgsbachs vorüberfloß. Zunächst hatte er hilflos und mit pochenden Schläfen mitansehen müssen, wie das Objekt seiner Begierde mit geradezu aufreizender Lässigkeit zur Überquerung der Schlucht ansetzte. Doch da schob sich rechterhand, vielleicht zehn Meter entfernt, ein entwurzelter, von Felskante zu Felskante reichender Baum ins Bild, den er kurzentschlossen erklomm. Mit pochenden Schläfen balancierte er über die schmale Traverse, vor sich den im Sonnenlicht funkelnden Falter und den in seiner Vorstellung immer schmaler werden Stamm, unter sich das reißende, blauweiß leuchtende Gewässer. Nur ein Fehltritt hätte genügt, und er wäre zwanzig Meter in die Tiefe gestürzt. Als er wenig später das andere Ufer erreicht und den Apollo im Netz hatte, durchrieselte ihn ein unbeschreibliches Hochgefühl.
Im schwachen Schein der Nachttischleuchte schwirrte die Eule durchs Zimmer. Ihr Schatten tanzte in wildem Zickzack über die gegenüberliegende Wand. Ein paarmal stieß sie gegen die Glühbirne und fiel auf die Nachttischplatte, wobei Flügelstaub aufwirbelte, rappelte sich aber wieder hoch und entschwand schließlich in einer weit ausholenden Neunzig-Grad-Kurve in die von tausend Sternen erfüllte Augustnacht.
Er schloss die Augen und streckte die Beine aus. Was für eine Wohltat, mein Gott! Er war restlos erledigt. Vielleicht, dachte er, sollte ich morgen einfach blaumachen. In Romanen gingen Geschichten wie die, die er gerade erlebte, in der Regel gut für den Protagonisten aus. Doch das hier war kein Roman. Später, wenn alles vorbei wäre und Paul es geschafft hätte, würden sie einander lächelnd ansehen und sich sagen, dass sie verdammtes Glück gehabtund dem Schicksal ein Schnippchen geschlagen hätten. Sie würden die Fakten noch ein bisschen überhöhen, hier etwas weglassen und sich dort etwas zurechtbiegen, würden sich ihre durchlittenen Ängste und Sorgen wachrufen und anderen gegenüber von der größten seelischen Herausforderung ihres bisherigen Lebens reden. Und sich eine Zeitlang wie Sieger fühlen, die dem Damoklesschwert entronnen waren. Bis aus dem ganzen Wahnsinn, in dem sie nun seit über dreißig Stunden festsaßen, die Heldengeschichte dreier Menschen geworden wäre, die das Schicksal für immer zusammengeschweißt hätte. Sie würden eine Zeitlang die besten Vorsätze haben, würden einander nicht aus den Augen lassen und um das Wohl des anderen besorgt sein. Bis der Alltag sie langsam wieder einholen und in jene Menschen zurückverwandeln würde, die sie gewesen waren, bevor alles begann: ihn in den Mann, der seine Frau mit einer ihrer besten Freundinnen betrog, und sie in die Frau, die beim erstbesten Streit mit ihm ins ferne Heidelberg zurückfliehen würde, um im verständnisvollen Blick ihrer Mutter wieder einmal zu erkennen, welchen Fehler sie, trotz des zweifellos wunderbaren Enkelkindes, das natürlich ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war, mit der Beziehung zu ihm begangen hatte. Ja. So würde es kommen. Genau so.
Dann fielen Thomas Bertram die Augen zu. Er sagte sich: Ich will nicht schlafen. Bloß ein paar Minuten dösen, mich kurz ausruhen, auftanken. Einmal glaubte er, unten im Hof Stimmen zu hören. Doch nach und nach verstummten alle Geräusche, und er verlor das Bewusstsein.
***
Als er in die Küche kam, saß sein Vater am Küchentisch und rauchte eine Zigarette. Nur seine Nase und sein Kinn ruhten im Lichtkegel der Deckenlampe, so dass das Gesicht des Vaters sekundenlang auf Marc wirkte wie die von den weiten Krempen ihrer Cowboyhüte halbverdeckten Visagen der Typen in denDjango-Western. Der Zigarettenrauch stieg in dem Lichtkegel hoch, wand sich darin in engen grauen Schleifen und löste sich auf.
»Was ist denn los?«, sagte Marc.
»Sie haben dir eine tote Taube vor die Tür gelegt.« Er stand auf, nahm zwei Gläser aus dem Hängeschrank und stellte sie auf den Tisch. Anschließend ging er zum Kühlschrank und holte zwei Flaschen Bier heraus. Mit dem Feuerzeug knackte er den Kronkorken der einen Flasche auf, füllte ein
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