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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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Beine gehalten hatte und wie der Kopf auf die Stufe geknallt war.
    Hier, aus der großen Entfernung, war das Ganze nicht mehr wirklich und auch nicht mehr gefährlich. War der bodenlose Schrecken nicht mehr fühlbar. Der Bus würde irgendwann über die Grenze rollen, und dann würden die holländischen Behörden ein Problem haben. Daran wollte er nicht mehr denken, sondern sich ein Bier aus dem Kühlschrank holen, mit Anette auf der Couch sitzen, ihr die Füße massieren und sich auf unbestimmte, vor ihm liegende Ereignisse freuen.
    »Ich hab mir fürchterliche Sorgen gemacht«, sagte sie und küsste ihn wieder auf die Wange. Ahrens glaubte förmlich spüren zu können, wie aus ihren warmen Lippen die Spannung der letzten Stunden wich, wie sie weicher wurden und ihre erstarrten Glieder schrittweise in die alte Lockerheit zurückfanden.
    »Ich weiß«, sagte er, »aber nun ist es ja vorbei.«
    »Ist es das wirklich, Peter?«
    »Keine Ahnung, wie lange der Irrsinn da draußen noch weitergeht. Sie werden hier anrufen und ihre Bilder haben wollen.«
    Die Opfer dieser Nacht würden, sofern die Polizei nicht endlich zur Besinnung kam, in Bewegung bleiben und sich weiter fürchten, bis ans Ende ihrer Kräfte und schließlich darüber hinaus. Er würde sich ab jetzt rausziehen aus allem, aus diesem Wahnsinn.
    Als er in Jasmins Zimmer stand und sein Blick auf den kleinen, vom hereindringenden Ganglicht beschienenen und im Schlaf gefangenen Körper fiel, das Kissen unter sich und das Nachthemd so verdreht, dass ihr Bauch hervorschaute, empfand er eine große Zärtlichkeit für sein Kind. Und sekundenlang erschien ihm ihr Bett, über dem ein Mobile an der Decke hing, wie der letzte unberührte Flecken Erde, den er kannte.
    Er hatte die Katastrophen, die der Alltag für ihn bereithielt,hier und da von blauen Flecken gezeichnet, am Ende noch immer in den Griff bekommen: sein Scheitern als Läufer, den Tod des Vaters, den seiner Schwester. Diesmal war es etwas anderes: Diesmal trug er, darüber bestand wohl kein Zweifel, eine Mitschuld. Und am Ende würden sie ihn dafür verantwortlich machen.
    ***
    Sie hatte sich fest vorgenommen, dass es nicht passieren würde. Dann war sie nach einem tapferen Versuch, sich bis zu Thomas’ Rückkehr mit Lesen (Sirvan hatte ihr einen Roman von Marie Collier mitgebracht) wachzuhalten, aber doch eingenickt. Dabei fing »Vagabundin der Liebe« gar nicht schlecht an. Doch sie war einfach zu müde.
    Der Titel des Romans war total kitschig. Aber die ersten Seiten erzeugten sofort Bilder in ihrer Phantasie: »Die wenigen Menschen warfen lange Schatten auf der ebenen Straße und eilten hinüber zum Postamt. Noch vom Sonnenlicht beschienen, fielen große runde Tropfen auf die heißen Blechschuppen und hinterließen Flecken auf den weiß getünchten Fassaden der Ladenreihe. Dann ging schwerer, dichter Regen nieder, und nachdem alle Schutz gesucht hatten, blieb Mireille nass wie die kleinen Vögel auf der Straße stehen und bot ihr vom Laufen erhitztes Gesicht dem Regen dar.«
    Amina blinzelte in den Schein der Nachttischleuchte, die sie angelassen hatte, dann richtete sie sich ein Stück in ihrem Bett auf. Ihr Blick fiel auf den kleinen Wecker, sie hatte nicht einmal eine halbe Stunde geschlafen. Ihr Mund war vollkommen ausgetrocknet.
    Sie nahm das Glas von der Ablage neben dem Bett und trank einen Schluck Wasser. Ja, sie trank zu wenig. Hatte die Schwester am Abend, als sie das Essen abräumte, sie nicht mahnend angesehen und gesagt: Sie müssen trinken, trinken, trinken, Frau Wilkins! Das, worauf sie jetzt Lust hatte, oder wie ihre Muttergesagt hätte, einen Heißhunger, gab es hier sowieso nicht: einen hauchdünnen, mit Schokosplittern bestreuten Pfannkuchen und dazu ein Glas Prosecco. Also riss sie sich zusammen und trank, trank, trank von dem eklig nach Chlor schmeckenden Kölner Leitungswasser.
    Sogleich musste sie wieder an Paul denken, der seit der Nottaufe zu etwas schmerzhaft Entrücktem geworden war, so als sehe sie ihn bereits durch ein umgedrehtes Fernglas, in unerreichbarer Ferne, ein immer kleiner werdender Fisch, der mutterseelenallein aufs unendliche Meer hinaustrieb. Hatten sie ihn mit der Prozedur nicht indirekt aufgegeben? Ja, das hatten sie. Sie glaubten nicht mehr an ein Wunder und überließen ihn damit seinem Schicksal. Sahen ihm zu wie einem Artisten in der Manege, der in die Tiefe sprang, zu seinem waghalsigen Kunststück ansetzte. In der Hoffnung, alles möge gut ausgehen. Sie

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