Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
obwohl ihm Lesen nie etwas bedeutet hatte, verspürte er, nachdem Rachael mit ihm Schluss gemacht hatte, das starke Verlangen, in andere Welten abzutauchen.
Ein Freund hatte ihm einen kleinen Roman eines Algeriers namens Albert Camus mit dem Titel »Der Fremde« geschenkt, und nachdem Marc ein paar Seiten gelesen hatte, fühlte er sich seltsam verzaubert. Als spreche daraus eine Stimme zu ihm, auf die er offenbar unbewusst gewartete hatte. Anschließend war er in die Buchhandlung gelaufen und hatte alles gekauft, was von Camus zu bekommen war.
Er hatte sich am Nachmittag vor den Fernseher gesetzt, um die Englischklausur, die er am Morgen geschrieben und wohl verpatzt hatte, zu vergessen, und zunächst ziellos durch die Programme geschaltet. Bis er in der Nachmittagsausgabe der Tagesschau hängengeblieben war und erste Bilder aus Gladbeck gesehen hatte. Zwei Gangster hatten eine Bank überfallen und Geiseln genommen. Neugierig schaltete er sich durch andere Sender in der Hoffnung auf weitere Informationen.
Zwei Stunden später hatte er gemeinsam mit seinem Vater zuerst die Heute-Sendung gesehen, anschließend um acht die Tagesschau, um Viertel vor zehn das Heute-Journal und gleich im Anschluss daran um halb elf in der ARD die Tagesthemen angeschaut und erfahren, dass die Gangster die Bank um 21 Uhr 37, gemeinsam mit den beiden Geiseln, in einem von der Polizei bereitgestellten Fluchtauto mit unbekanntem Ziel verlassen hatten.
Noch lange nachdem sein Vater ins Bett gegangen war, schaltete Marc zwischen den Dritten Programmen hin und her. Doch sowohl der WDR als auch der Hessische Rundfunk hatten nichts Neues mehr aus Gladbeck gebracht. Die Gangster waren inzwischen,verfolgt von einem Tross von Journalisten, auf der A 43 in Richtung Münster unterwegs, nachdem die Polizei am Nachmittag ihre Geldforderungen erfüllt hatte.
Ein nur mit einer Badehose bekleideter Polizeibeamte hatte die Summe mittags vor dem Eingang der Bank deponiert und mit einem Besenstil vor die sich später kurz einen Spaltbreit öffnende Tür geschoben. Der Kassierer der Bank und eine 23 Jahre alte Angestellte befanden sich weiterhin in der Hand der offenbar schwerbewaffneten Gangster. Im Verlauf des Vormittags hatten diese mehrfach Warnschüsse abgegeben. Sowohl die über der Bank gelegenen Wohnungen als auch zwei nahe Kindergärten waren von der Polizei geräumt worden.
Als Marc, nachdem er mehr als 100 Seiten Camus gelesen hatte, das Licht ausschaltete, zeigte sein auf dem Nachttisch stehender Wecker kurz vor vier.
Die Geiseln befanden sich seit nunmehr über 20 Stunden in der Gewalt der Verbrecher.
***
Die Milchspritze hing, oben geöffnet, etwa 20 Zentimeter über seinem Kopf an der Decke des Brutkastens. Die gut sichtbaren Wellenbewegungen seines Magens und der Speiseröhre saugten die Nährstofflösung an. Darin: Elektrolyte wie Natrium, Kalium, Chlor, Kalzium und Phosphor in Verbindung mit den Vitaminen A, B, C, D, E und K. Für ein Gramm Gewichtzunahme benötigte er täglich drei Kilokalorien.
Die ihm verabreichten Nährstoffe wurden regelmäßig auf ihren Gehalt im Blut kontrolliert, da selbst kleinste Verschiebungen zu schweren Erkrankungen führen konnten. Befand sich zu wenig oder zu viel Kalium im Blut, konnte es leicht zu Herzrhythmusstörungen kommen. Bei zu wenig Kalzium würde er zittrig werden und einen Krampfanfall erleiden.
Paul war kein lebhaftes Frühchen. Die Gefahr, dass er sichden Ernährungsschlauch griff und teilweise aus der Speiseröhre zog, bestand im Moment nicht. Anderenfalls (dann nämlich, wenn die Nährstofflösung statt in den Magen in die Lunge lief) konnte es gefährlich für ihn werden und zu einer sogenannten Aspirationspneumonie kommen.
***
»Wir müssen die Karre loswerden!«, sagte Rösner. »Is ’ne Bullenkarre, vielleicht hamse ’n Peilsender eingebaut.«
Er folgte der Uhlandstraße, wechselte nach zweihundert Metern auf die Goethestraße und hielt Ausschau nach einem passenden Wagen, gegen den sie den Audi eintauschen konnten. Er drosselte die Geschwindigkeit, dunkle Fassaden glitten vorüber. Vor einer Gaststätte, neben einem V W Käfer, parkte ein 7er BMW.
»Der da isses!«, sagte Rösner, trat auf die Bremse, zog den Audi an die Bordsteinkante und stellte den Motor ab.
Er nahm den Revolver aus der Konsole und stieg aus. Im milchig-hellen Schein der Laterne wirkte der große BMW wie für sie gemacht: dunkel, geräumig, schnell.
Rösner sah sich kurz um und betrat die Gaststätte.
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