Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
Straße.
Der Zustand des Großvaters war allem Anschein nach so kritisch, dass man mit dem Schlimmsten rechnen musste. Die Begegnung mit Wandrey in der Milchbar war eine Enttäuschung gewesen. Rachael war wahrscheinlich schon wieder in ihrer politischen Mission unterwegs, und der Vater stand, mit seinem grauen Kittel bekleidet, an seiner Werkbank, über irgendeinen defekten Gegenstand gebeugt. Und dann war da dieses Foto von Silke Bischoff. Ihr verzweifelter Blick.
Sie hatten ihre Parolen an Hanaus Wände gesprüht, sich stark und gut dabei gefühlt. Doch das Einzige, was sie in damit erreicht hatten, war, dass sich die Leute eine Zeitlang das Maul darüber zerrissen. Was hatten sie denn gedacht? Dass sie mit ihren Sprüchen den Lauf der Geschichte aufhalten würden? Wie naiv waren sie eigentlich?
Was blieb, war eine Kinderei, mehr nicht. Eine Geschichte, die sie später vor Gleichgesinnten zum Besten geben konnten. Doch wahrscheinlich würden schon in Kürze nicht einmal mehr Spuren davon zu sehen sein, von irgendwelchen schlechtbezahlten Reinigungskräften in stundenlanger Plackerei beseitigt. Ganz im Gegensatz zu dem Foto auf der Titelseite der Bild, das jeder, der es sah, nicht mehr vergessen würde.
Marc beschleunigte seinen Schritt in Richtung Westbahnhof und nahm sich vor, Lenny aus seinem Freundeskreis zu streichen. Nur Lenny hatte von der Sache mit der KTM gewusst, und nur er konnte ihn bei der Polizei verpfiffen haben. Zu Hause würde er sich mit einem kalten Getränk und einer Tüte Chips ins Bett legen, Camus lesen und Musik hören, Pink Floyd, Ashra und Supertramp, bis es wieder Nacht wurde und Rachael endlich an seinen Laden klopfte.
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Weser Kurier
Um Leben oder Tod
Zum Teil grotesk anmutende Pannen der Polizei und Versäumnisse der Sicherheitsbehörden in Bremen werden noch viele ernste Fragen an die Verantwortlichen nach sich ziehen, von der planvollen Nicht-Beobachtung des Verbrecher-Pärchens bis zum klemmenden Schlüssel an der Handfessel der Rösner-Freundin. Dazu der Mord an dem jungen Italiener. Alles falsch, wie wir nun wissen.
Er jagte seinen 2,6-Liter-Diplomat mit heruntergedrehten Scheiben in Richtung Stadtmitte über freie Kreuzungen hinweg, während im Radio »The Winner Takes It All« von ABBA lief, steuerte den gierigen Spritfresser durch eine im Erwachen begriffene Stadt, an deren östlichen Rändern sich bereits ein erstes Gelb und Weiß aus dem Graublau heraufkämpften.
Kirchner hatte immer große Wagen gefahren, ausladende Karossen, die schiffsgleich auf dem Asphalt segelten. Und immer von Opel. Zuletzt einen schneeweißen Admiral B, Baujahr 76, mit weinroten Ledersitzen. Davor einen haselnussbraunen Kapitän A, Baujahr 68, den er höchstpersönlich auf dem Autofriedhof in der Steinhammerstraße abgeliefert hatte, nachdem die Zylinderkopfdichtung den Geist aufgab. Die Quecksilbersäule war bereits wieder auf satte 28 Grad geklettert.
Bevor Kirchner die Wohnung verlassen hatte, war er zurück ins Schlafzimmer gegangen, kurz zu Barbara unter die leichte Decke getaucht, hatte ihr einen Kuss auf die Schulter gedrückt (sie besaß dort eine kleine herzförmige Vertiefung, die er besonders liebte) und einen handgeschriebenen Zettel aufs Kopfkissen gelegt. ICH BIN WIEDER IM SPIEL stand darauf. Anschließend war er mit dem Gefühl, aus einer über 24 Stunden währenden Narkose erwacht zu sein, im anbrechenden Dortmunder Morgen in seinen Wagen gestiegen.
Eine knappe halbe Stunde später stand er in dem hell erleuchteten Besprechungsraum im Präsidium in der Markgrafenstraße, in dem er nur wenige Stunden zuvor schlafend auf dem Boden gelegen hatte, und richtete eindringliche Worte an sein vollzählig versammeltes, aus 14 Beamten bestehendes Team: Ehemännerund junge Väter, die Plastikbecher mit heißem Kaffee in den Händen hielten und leicht geblendet in die hereindringenden Sonnenstrahlen blinzelten.
Kirchner war jetzt ganz in seinem Element, von Müdigkeit keine Spur. Er war wildentschlossen, seine Männer auf einen möglichen finalen Zugriff einzuschwören. Den schwarzen Edding-Stift in der Hand, füllte er den Flipchart mit Pfeilen, Kreisen und Karos, die – mit den Augen eines Laien betrachtet – an planlose geometrische Kritzeleien eines Viertklässlers erinnerten. Für die Männer vor ihm aber war es ein ausgeklügeltes, graphisch umgesetztes Zugriffsschema eines polizeilichen Sondereinsatzkommandos. Ergänzt durch die Überschriften: Zugriffsmöglichkeiten,
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