Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
Gefahrenpotential, Sicherungsvorkehrungen, Ziel- und Personenortung.
Noch war von einem Einstieg seiner Leute in den laufenden Einsatz nicht die Rede, noch war das MEK am Zug. Männer, die gut bewaffnet in ihren Zivilfahrzeugen saßen und die Augen offenhielten, in der Hoffnung, die Flüchtigen dem SEK in die Arme zu treiben.
Minutenlang redete Kirchner ohne Punkt und Komma, berauscht von der Vorstellung, das SEK Dortmund mit ihm an der Spitze siegreich in die letzte, alles entscheidende Schlacht gegen das Böse zu führen. Dabei blickte er in interessierte, gleichzeitig aber müde wirkende Gesichter. »Kurze Pause«, rief er widerwillig in die schläfrige Runde, legte den Edding auf dem Rand des Flipcharts ab und ging aus dem Raum.
Er warf drei Groschen in den am Ende des dämmrigen Flurs stehenden Kaffeeautomaten und drückte die Kaffee/schwarz-Taste. Ungeduldig beobachtete er, wie sich der hellbraune Becher mit der röchelnd herausrinnenden dunkelbraunen Flüssigkeit füllte. Mit dem heißen Becher in der Hand ging er zurück in den Besprechungsraum, ließ sich auf einem Stuhl nieder und blies kleine Wellen auf die Oberfläche der aromatisch duftenden Flüssigkeit.Dabei packte ihn wieder diese tiefe Unruhe, die zuletzt so quälend in seiner Schädelbasis herumgefuhrwerkt und jeder seiner Aktionen etwas Fahriges verliehen hatte.
Ohne eine plausible Erklärung dafür zu haben, musste Kirchner an Albert von Moers denken. Das kleine, faltige Gesicht des Mannes, der ihm eine Zeitlang eine Art Großvater gewesen war, als seine damals bereits über siebzigjährige Großmutter sich in einem Anflug von altersbedingtem Leichtsinn noch mal einen Mann ins Haus geholt hatte, stand ihm plötzlich bildhaft vor Augen. So, als müsste er nur seine Hand ausstrecken, um ihn zu berühren.
Albert von Moers lag seit über zwanzig Jahren auf dem Südwestfriedhof an der Großen Heimstraße begraben, und Kirchner hätte nicht mit Bestimmtheit sagen können, wann er das letzte Mal an den Liebhaber kleiner, fies stinkender Zigarillos gedacht hatte. Noch Wochen, nachdem man seinen Leichnam aus der großmütterlichen Wohnung geschafft hatte, stank es dort nach seinen billigen La Paz Mini Wilde Sumatra, die er rund um die Uhr gepafft hatte.
Albert von Moers hatte bis zu seiner Pensionierung bei der Kripo Duisburg im Rang eines Hauptkommissars gearbeitet. Bei einem Besuch seiner in Dortmund lebenden Schwester Aline war er Kirchners Großmutter auf einer Seniorenveranstaltung der Katholischen Gemeinde St. Bonifatius über den Weg gelaufen, und wenig später, zum Entsetzen ihrer Tochter, mit Sack und Pack bei ihr eingezogen.
Bis zuletzt hatte Albert nicht aufgehört, vom Fall der 16-jährigen Linda Wolfgeist zu erzählen. Das Mädchen war nach einer Klassenparty in Duisburg-Wedau nicht nach Hause zurückgekehrt. Später war ihr Moped gefunden worden, doch das Mädchen blieb spurlos verschwunden. Albert, der damals die Ermittlungen geleitet und den Eltern des Mädchens versprochen hatte, den Täter zu finden, hatte sein Versprechen nie einlösen können,obwohl im Lauf der folgenden Jahre Hunderte von Hinweisen eingegangen waren, zahlreiche Verdächtige überprüft und sogar eine Belohnung zur Ergreifung des Täters ausgesetzt worden war. Denn schon bald war die Kripo von einem Gewaltverbrechen ausgegangen. Der Fall hatte den alten von Moers nie mehr losgelassen und war am Ende zu seinem persönlichen Trauma geworden.
»Wir haben alles versucht, verstehst du, Rolf? Alles«, hatte der Alte immer wieder gesagt, wenn er auf das Thema zu sprechen kam. »Doch das Mädchen war wie vom Erdboden verschluckt. Es war wie verhext!«
Viel später, da war Albert von Moers schon lange tot, hatte Kirchner manchmal gedacht, dass ihn die Bekanntschaft mit dem verbitterten Kriminaler womöglich – wenn auch unbewusst – in seinem Entschluss bestärkt hatte, zur Polizei zu gehen, als müsse er sich beweisen, es besser zu können. Und dass der Alte sich gerade jetzt in ihm meldete, konnte ja wohl kein Zufall sein. Als wollte der ihn aus dem Grab heraus ermahnen, gefälligst zu Ende zu bringen, was er in Gladbeck begonnen hatte. Es war, als könnte er Albert sagen hören: Andernfalls winkt dir ein ähnliches Schicksal wie mir!
Nachdenklich starrte Kirchner auf die schwarzen Pfeile und Karos, die er schwungvoll auf die Flipchart-Blätter gemalt hatte. Dann atmete er kurz durch, zerdrückte den leeren Plastikbecher geräuschvoll in seiner Hand und rief in die
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