Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
sie, der so lange anhielt, bis die Worte sich ihr irgendwann, wenn sie nur geduldig blieb, zu fügen begannen und, von ihr gelenkt, in eine gemeinsame Vorwärtsbewegung gerieten.
Das hier, diese Zweifel aber, das spürte sie, waren etwas völlig anderes. Sie wandte sich ab, ließ das Manuskript offen auf dem Tisch liegen und ging ins Bad. Sie sagte sich: Das muss diese verdammte Hitze sein, die mir so zusetzt und meine Gedankendurcheinanderbringt. Ich werde ein Aspirin dagegen nehmen, das hat immer geholfen. Oder besser gleich zwei. Den Ballen ihrer linken Hand auf den Waschbeckenrand gestützt, sah sie zu, wie sich die Brausetabletten im Glas auflösten.
Sie führte das Glas an die Lippen, um die saure Lauge hinunterzustürzen, setzte es aber sogleich wieder auf dem Beckenrand ab, weil sie plötzlich das Gefühl hatte, jeden Moment umzukippen. Zitternd hielt sie sich am Becken fest.
In der Diele klingelte das Telefon. Das musste Helga sein! Sie rappelte sich auf und wankte hinaus, nahm den Hörer ab, presste ihn ans Ohr und sagte schwer atmend: »Ja? Helga, ja? Hallo?«
Im selben Moment wurde die Verbindung unterbrochen, und das Besetztzeichen erklang. Ungläubig nahm sie den Hörer vom Ohr. Dann legte sie auf und war auf dem Weg zurück ins Bad, als das Telefon erneut läutete. Sie stürzte zurück, nahm ab und hörte eine Männerstimme sagen. »Lisa? Was machst du?«
»Hören Sie«, sagte sie, »Sie haben die falsche Nummer. Rufen Sie bitte nicht noch mal an.«
»Aber ich muss Lisa sprechen!«, sagte die Männerstimme.
»Hier ist keine Lisa«, sagte Brigitte energisch, legte auf und wartete, bis es wieder klingelte. Dann nahm sie ab, legte aber sofort wieder auf. Sie ließ Zeit verstreichen, eine Minute, zwei. Doch das Telefon blieb stumm.
Sie nahm den Hörer von der Gabel und wählte Helga Abrahams Nummer. Und als sie deren verschlafen klingende Stimme am anderen Ende vernahm, sagte sie: »Du musst sofort kommen, hörst du?«
»Ja«, antwortete ihre Freundin schwer und schleppend, »ja, ich höre.« Nach einer kurzen Pause fragte sie: »Wie spät ist es denn?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Brigitte und blickte sich forschend um, obwohl sie wusste, dass in der Diele keine Uhr hing, »früh jedenfalls. Aber du kommst, ja, Helga?«
»Ja«, antwortete Helga Abraham. »Ja. Aber was ist denn?« Als Brigitte nichts erwiderte, sagte sie: »Also schön, ich komme. In einer halben Stunde bin ich bei dir.«
»Danke«, sagte Brigitte erleichtert und legte auf. Sie lauschte kurz in Richtung Garage, doch es war alles ruhig. Dann ging sie zurück ins Bad, um sich das Gesicht unter dem laufenden Wasser zu kühlen. Auf dem Beckenrand stand immer noch das halbvolle Glas.
Plötzlich fiel ihr Blick auf das neben der Waage auf dem Boden liegende Handtuch, mit dem sich der Typ aus ihrer Garage am Abend abgetrocknet hatte. Es sah aus wie ein räudiges Tier, dessen Glieder in sich verdreht waren. Angewidert wandte sie sich ab, griff nach dem Glas und kippte den sauren Inhalt auf einen Zug hinunter.
***
Marc drückte die Klinke herunter und schob behutsam die Zimmertür auf. Doch zu seiner Überraschung war das Bett, in dem sein Großvater noch am Vorabend gelegen hatte, leer. Sogar das Laken war bereits von der Federkernmatratze abgezogen worden. Darauf lag ein in Plastikfolie eingeschlagenes frisches Kissen. Irritiert ging er hinaus auf den Flur.
»Wieso ist Herr Steiner nicht in seinem Zimmer?«, fragte Marc aufgeregt, als er der Stationsschwester gegenüberstand, einer schlanken, mit einem weißen Kittel bekleideten Person, die die abgeschabte silberfarbene Warmhaltekannen auf einen Servierwagen stellte.
»Darf ich fragen, wer Sie sind, junger Mann?«, erwiderte sie und belud weiter den Wagen. Dann hielt sie kurz inne und fixierte ihn aus hellwachen Augen. Sie mochte 35 Jahre alt sein, und sah ihn nun auf eine Weise an, die Marc beunruhigte.
»Ich bin der Enkel von Gustav Steiner und wollte sehen, wie es meinem Großvater heute geht.«
»Es hat leider Komplikationen gegeben, heute Nacht«, antwortete sie. »Man hat ihn auf die Intensivstation verlegt, Station B 4.«
»Aber wieso denn?«, sagte Marc.
»Er liegt im vierten Stock. Neben der Treppe ist der Aufzug«, antwortete die Schwester mit ausgestrecktem Arm. Jetzt sah sie ihn betrübt an.
Der Fahrstuhl glitt nach oben. Doch als er vor der Milchglastür der Intensivstation stand und sich dabei zusah, wie sein Zeigefinger den abgewetzten Klingelknopf drückte,
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