Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
Vom Netzwerk:
Runde: »Es geht weiter!«
    ***
    Bertram sah auf seine Citizen, sie zeigte 7 Uhr 21. Wenn er sich ranhielt, konnte er in einer halben Stunde in der Redaktion sein und sich sogar noch einen Kaffee besorgen, ehe ihr außerplanmäßiges Meeting begann.
    Im Geist ging er noch einmal durch, was der vor ihm liegendeTag bringen sollte: zunächst die Besprechung im kleinen Kreis, anschließend Tickermeldungen lesen und, sofern Maibach ihn nicht bereits abgehakt hatte, mit einem Tontechniker rausfahren, wohin auch immer. Um irgendeinen Scheiß zu drehen, dachte er.
    Er wandte sich Amina zu, die im Schlaf aussah wie eine kleine Prinzessin. Er musste daran denken, wie sie sich im Karneval im Jahr zuvor als Schneewittchen zurechtgemacht hatte. Sie hatte einfach umwerfend ausgesehen mit dem langen paillettenbesetzten Rüschenkleid, ihrem pechschwarz gefärbten Haar, der schneeweißen Haut und den blutroten Lippen. Sie hatten sich mit Freunden im Alcazar in der Bismarckstraße im Belgischen Viertel getroffen und ausgiebig gefeiert. Irgendwann waren sie, betrunken und hungrig aufeinander, gemeinsam in der Herrentoilette verschwunden, hatten sich in der Kabine eingeschlossen und sich, gegen die Kabinentür gelehnt, im Stehen geliebt.
    Behutsam legte er seine Hand auf ihre Schulter. Er mochte es, wenn ihre vom Schlaf entspannten Züge das Mädchen erahnen ließen, das sie einmal gewesen war. Dann bekam sie in seinen Augen etwas Zerbrechliches, Kükenhaftes. Wahrscheinlich sprangen aber einfach nur seine Beschützerinstinkte an, die ihn sie dann so sehen ließen.
    Sein nächster Gedanke galt seinem Sohn, diesem tapferen kleinen Kämpfer. Am liebsten wäre er auf der Stelle hinauf zu ihm gelaufen. Doch die Vorstellung, Maibach mit seinem Zuspätkommen das letzte, alles entscheidende Argument für seinen sofortigen Rausschmiss zu liefern, hielt ihn davon ab.
    Bertram erhob sich, fuhr sich mit der Hand übers Haar und warf noch einmal einen Blick auf die Schlafende. Dann verließ er ihr Zimmer.
    Im Flur stand plötzlich ein Clown vor ihm, eine Frau, wie er bei genauerem Hinsehen begriff. Aus schwarz und orangerot geschminkten Augen lächelte sie ihn freundlich an. Sie trug einefeuerrote Perücke und einen wallenden weißen, mit knallroten Tupfen übersäten Umhang, dazu eine seidig glänzende blaue Hose und riesige rote Schuhe. Auf ihrer Nasenspitze saß eine tischtennisballgroße, ebenfalls knallrote Kugel.
    »Guten Morgen«, sagte Bertram irritiert.
    »Guten Morgen«, erwiderte sie grinsend und deutete einen Knicks an. In der rechten, weiß behandschuhten Hand hielt sie eine riesige Rassel, mit der sie einmal kurz hin und her wedelte, was ein schnarrendes Geräusch verursachte. Auf dem Rücken trug sie einen knallgrünen Rucksack.
    »Ich bin der Hausclown, Emma Bodin. Ich komme dreimal die Woche, um die Größeren ein bisschen zu erfreuen.« Sie streckte ihm die freie Hand hin.
    »Das ist schön«, sagte Bertram, weil ihm nichts Besseres einfiel, und ergriff die Hand. »Mein Sohn liegt oben auf der Intensivstation«, sagte er und lächelte schief. »Ein Frühchen. Vier Monate zu früh.«
    »Ihr Sohn ist hier gut aufgehoben«, antwortete die Frau und wedelte wieder mit der Rassel. »Hier arbeiten wunderbare Leute.«
    »Ja«, sagte Bertram und starrte auf die rote Kugel auf ihrer Nasenspitze, »ja, das glaube ich auch.«
    »Ich muss jetzt weiter«, sagte die Frau, verbeugte sich noch einmal und drückte ihm einen Smiley in die Hand. »Schönen Tag!«
    »Ja, Ihnen auch«, stammelte Bertram und machte einen Diener, wie er das als Junge immer gemacht hatte, wenn seine Eltern Besuch bekamen und sie ihn ihren Gästen vorstellten. »Auf Wiedersehen!«, rief er noch und starrte auf die gelbe Blechscheibe in seiner Hand. Als er zehn Minuten später in der Straßenbahn in Richtung Aachener Straße saß, schob sich bereits Sylvias Gesicht vor das der geschminkten Frau.
    Vom ersten Moment an hatte es zwischen ihnen geknistert.Doch keiner von ihnen hatte im Laufe der folgenden zahllosen Begegnungen versucht, das Ganze in eine eindeutige Richtung zu lenken. Und so spielten sie seither mit dem Unausgesprochenen wie zwei Kinder, die hinter ihrem Rücken etwas versteckten, obwohl der andere genau wusste, worum es sich dabei handelte. Bertram hatte sich mit der Situation arrangiert. Außerdem gab es inzwischen Sirvan.
    Bertram sah sehnsüchtig hinaus in die gleißenden morgendlichen Stadtschluchten, die wie eine schnelle Folge überbelichteter Postkarten

Weitere Kostenlose Bücher