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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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tauchte die ebenfalls zitronengelb angestrichene Küche in ein grelles Leuchten. Die vor dem Fenster hängenden Glasschmetterlinge schienen zu glühen.
    Minutenlang schob Ulrike ihr giftgrünes Bic-Feuerzeug und die Zigarettenschachtel unschlüssig wie Figuren auf einem imaginären Schachbrett hin und her. Bis sie spürte, dass es zwecklos war, Chris länger von ihrem Vorhaben, zu ihrem Vater nach Oldenburg zu fahren, abbringen zu wollen. Sie schnippte die Packung weg und sagte: »Okay, ich ruf am Bahnhof an und lass mir sagen, wann der nächste Zug nach Oldenburg abfährt. Aber ich komme mit.«
    Eine Dreiviertelstunde später hielt der Linienbus Nummer 24 in der Bahnhofsstraße, und sie stiegen aus. Chris hatte darauf bestanden, den Bus zu nehmen, und strebte in raumgreifenden Schritten auf die Gleishalle zu, an deren kaminroter Front in der Mitte oberhalb des in Stein gehauenen Reichsadlers und der vier geschwungenen Fenster das weiße, kreisrunde Zifferblatt der Uhr im Sonnenlicht glänzte und flirrte wie das starrende Auge eines Zyklopen.
    Vor ihnen lag eine gerade mal etwas mehr als halbstündige Fahrt, doch auf Ulrike machte Chris einen seltsam gehetzten Eindruck, wirkte nervös und angespannt. So, als müsse sie sich noch Tage gedulden, ehe sie endlich ihr Ziel erreichte. Immerwieder sah sie hinauf zu der über dem Bahnsteig hängenden Uhr. Nachdem Ulrike die Fahrkarten gekauft hatte, blieb ihnen bis zur Abfahrt des Zuges noch eine knappe Viertelstunde, doch sämtliche Versuche, Chris dazu zu bewegen, noch rasch einen Kaffee zu trinken, wehrte sie unwirsch ab. Stattdessen pendelte sie unablässig an der Bahnsteigkante hin und her wie eine Ameise, die den Rand eines Blattes erreichte und diesen nun in ihrer Ratlosigkeit immerzu abirrt.
    »Du machst mich noch ganz verrückt mit deinem Gezappel«, sagte Ulrike, als sie im Abteil saßen, der Zug losfuhr und Chris fortwährend mit den Beinen wippte.
    »Hättest ja nicht mitkommen müssen«, erwiderte Chris und sah hinaus in die in leuchtenden, rasch wechselnden Braun- und Grüntönen vorbeiziehende Landschaft. Nun hatte Ulrike genug und sagte: »Komm, lass uns jetzt endlich reden.«
    »Reden, worüber denn? Übers Wetters?«, wiegelte Chris ab und starrte weiter demonstrativ aus dem Fenster. Ihr Gedächtnis hatte in der Nacht dichtgemacht wie ein Computer, der sich nicht mehr hochfahren ließ. Was sie spürte, war eine große Leere. Das Ungeheuer, das sie in der Nacht gepackt hatte, um sie mit auf den Grund des pechschwarzen Sees hinabzuziehen, hatte sie in letzter Sekunde losgelassen, ihre Gefühle aber waren mit hinabgetaucht in die Schwärze. Nun musste sie davor auf der Hut sein, dass das Ungeheuer nicht plötzlich wieder auftauchte und nach ihr griff. Schon eine Sekunde der Unachtsamkeit konnte genügen, um ihr Schicksal zu besiegeln.
    »Über das, was gestern passiert ist, natürlich. Ich seh doch, dass es dir nicht gutgeht. Na komm schon«, sagte Ulrike.
    Chris blieb stumm. Kurz vor ihrem Eintreffen in Oldenburg meinte Ulrike den Schimmer von etwas Glänzendem unter Chris’ linkem Auge zu sehen. Sie schaute sie so lange konzentriert an, bis Chris, die gerade wieder aus dem Fenster sah, den Kopf zu ihr herumriss und sagte: »Wieso starrst du mich so an?«
    »Weil ich dachte, du … Ach nichts.«
    »Was? Was dachtest du?«
    »Dass du weinst«, sagte Ulrike.
    Ohne ihren Blick von der vorüberziehenden Landschaft zu lösen, antwortete Chris: »Das wäre ja noch schöner, nein, zum Teufel! Lass mich einfach in Ruhe, okay!«
    Für Ulrike bestand kein Zweifel mehr: Chris schien in den letzten zwölf Stunden eine tiefgreifende emotionale Veränderung durchgemacht zu haben. Denn während sie sprach, war nicht die Spur einer Gefühlsregung in ihrem Gesicht zu erkennen. Sie wirkte nüchtern und kalt wie jemand, der sich geschworen hatte, nichts und niemanden mehr an sich heranzulassen.
    Und dann standen sie vor der Haustür ihres Vaters in Oldenburg, doch auch nach dem neunten Läuten wurde nicht geöffnet.
    »Und was machen wir jetzt?«, sagte Ulrike, lehnte sich gegen die Hauswand und steckte sich eine Zigarette an.
    Zwei Typen in einem schwarzen Käfer-Cabrio fuhren vorbei und winkten ihnen im Rhythmus der stampfenden Beats von Michael Jacksons »Billy Jean« zu. Doch Chris schien keinerlei Notiz von ihnen zu nehmen, sondern starrte auf den Boden, als liege dort die Antwort auf Ulrikes Frage. Irgendwann hob sie trotzig das Kinn und sagte: »Die Krankenhäuser

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