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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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mitmischen, den Vermittler spielen. Und wofür? Für eine Lawine aus Vorwürfen und Kollegenschelte und ein paar hundert Mark für Fotos, die gut und gern ein anderer hätte machen können.
    Das Radio im Bad verstummte, und Ahrens hörte, wie seine Frau die Treppe hinunterlief. Dann erklang das Klappern von Geschirr. Anette goss Milch in den Kaffee und füllte ihn anschließend, so, wie sie das jedes Mal machte, wenn sie spät dran war, in ihren verschließbaren gelben Plastikbecher. Die Honigschnitte, die sie normalerweise morgens aß, fiel heute aus. Und tatsächlich hörte er sie keine drei Minuten später »Tschüüüssss!« rufen – und die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.
    Ich könnte mein Archiv ordnen, sagte er sich. Die Vorstellung aber, tatsächlich im Souterrain, wo dicke Staubmäuse in den Ecken lagen und es säuerlich nach feucht gewordener Raufasertapete und verschüttetem Hefeweizenbier roch, lange Stunden damit zuzubringen, Hunderte von Dias und Kontaktabzügen zu beschriften und zu katalogisieren, die sich sowieso kein Schwein jemals wieder ansehen würde, ließ ihn augenblicklich davor zurückschrecken. Für eine derart titanische Aufgabe fehlte ihm im Moment einfach die Kraft.
    Er spürte eine drückende Leere in seinem Magen, ein gastrointestinaltraktisches Vakuum, das danach schrie, ausgefüllt zu werden, ganz gleich, womit. Noch immer hafteten die Ereignisse des Vortages an ihm wie eine schleimige Schnecke an einer Glaswand.
    Ahrens wuchtete sich hoch, verließ das Schlafzimmer und ging hinunter in die Küche. Unten im Flur blieb er kurz stehen undwarf einen Blick auf den blinkenden AB. Dann spähte er hinüber ins Wohnzimmer.
    Er ging zu der Eichenholzkommode, die Anette mit in die Ehe eingebracht hatte und in welcher sie die diversen Alkoholica vor Jasmin in Sicherheit gebracht hatten. Er schloss die Tür auf und entschied sich für die Wodkaflasche. Mit der Flasche in der Hand lief er entschlossen in die Küche, nahm ein Schnapsglas aus dem Schrank und füllte es bis knapp unter den Rand. Prüfend hielt er das Glas gegen das zum Fenster hereinflirrende Sonnenlicht. Dann kippte er den farblosen Inhalt auf einen Zug hinunter, umklammerte das leere Glas und wartete auf den Schock in seinem Magen.
    Der ließ nicht lange auf sich warten und fetzte wie eine Hitzewelle durch seinen Körper hinauf in seinen Kopf. Tränen traten ihm in die Augen, doch sofort fühlte er sich besser. Viel besser. Er schenkte sich noch einmal nach und fackelte auch diesmal nicht lange. Das Feuer in seinem Magen war nicht mehr das gleiche, dafür registrierte er nun ein anschwellendes Kribbeln in den Unterarmen.
    Er stellte das Glas auf der Arbeitsplatte ab, ging hinaus in die Diele und griff zum Telefonhörer. Das Freizeichen summte – jetzt war er bereit für Dagmar Scharlow. Bereits nach dem zweiten Läuten nahm sie ab.
    »Schön, dass du zurückrufst«, sagte sie mit ihrer hellen warmen Stimme. »Ich wollte hören, wie es dir nach alldem geht!« Von ihrem Unfall hatte sie eine sieben Zentimeter lange Risswunde an der Stirn davongetragen, die sich, mit fünf Stichen vernäht, hinter einem weiträumig verklebten weißen Mullkissen verbarg.
    »Großartig! Mir geht es großartig!«, antwortete Ahrens eine Spur zu laut. »Mir ist es noch nie besser gegangen, ehrlich«, posaunte er. Unglücklicherweise musste er im selben Moment aufstoßen: das gastrointestinaltraktische Vakuum hatte sich offenbar geschlossen, und es funkte aus der Tiefe seines Leibes: »Alles Roger.«
    »Hast du getrunken?«, hörte er die Scharlow daraufhin mit einem sorgenvollen Ton in der Stimme fragen.
    »Und wenn schon. Ist doch nicht verboten, oder?«
    »Nein, nein, natürlich nicht. Nur ist es gerade mal … ach, egal.« Es entstand eine kurze Pause, und Ahrens konnte hören, wie auf der anderen Seite ein Feuerzeug mechanisch auf- und zuklickte und sie den Rauch ihrer Zigarette schnarrend an der Muschel vorbeiblies. Dann sagte sie: »Ich möchte dich jedenfalls zu deinem mutigen Verhalten beglückwünschen.«
    »Danke«, erwiderte er schlapp. Mit raumgreifenden Schritten tappte er hinüber ins Wohnzimmer, wobei er sich beinahe in der Telefonschnur verhedderte, und glitt mit dem Hörer am Ohr rückwärts wie eine mit einem einzigen Axtschlag gefällte Nordmanntanne der Länge nach aufs Sofa. »War alles halb so wild, ehrlich«, sagte er und rieb seine nackten Füße aneinander.
    »Ich hätte das nie gekonnt, mit diesen Verbrechern reden und so …

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