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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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gilt vor allem für Sie, Kirchner. Jedes eigenmächtige Handeln hat für Sie weitreichende Konsequenzen, dass das klar ist! Ich wiederhole: keine Alleingänge, kein Django-Scheiß! Und vor allem kein Mitführen von Schusswaffen! Verstanden? Anderenfalls mache ich Sie fertig!«
    »Gaaaannnzz wie Sie meinen, Herr Oberrat!« antwortete Kirchner in spöttischem Ton und wiederholte für die Kollegen im Wagen wie ein Kind, das noch einmal aufsagen soll, was der Vater ihm an Benimmregeln für den Aufenthalt im Ferienlager mit auf den Weg gegeben hat: »Abstandhalten, keine Alleingänge, kein Django-Scheiß und auch kein Mitführen von Schusswaffen!«Dann unterbrach er einfach die Verbindung und rief: »Ach, leck mich doch, du Arsch!«
    Landau rief von hinten: »Hey, hat der Typ sie eigentlich noch alle? Kein Mitführen von Schusswaffen? Der spinnt doch wohl. Sollen wir den Rösner vielleicht mit bloßen Händen fangen?«
    »Nein«, antwortete Kirchner höhnisch grinsend und strich sich über sein unrasiertes Gesicht. »Du besorgst dir bei Karstadt in der Spielwarenabteilung ein Lasso und fängst ihn damit ein!« Alle lachten trotz der angespannten Situation.
    Sie stellten den Wagen in der Krebsgasse, etwa hundert Meter Luftlinie vom BMW entfernt, ab, riefen die Kollegen aus den anderen beiden Fahrzeugen dazu und besprachen kurz das Vorgehen.
    »Selbstverständlich bleiben alle Kollegen bewaffnet«, sagte Kirchner. »Ich mische mich unter die Journalisten und versuche seitlich an den Rösner ranzukommen. Andresen nähert sich ihm von hinten. Ich will ständig Sichtkontakt zwischen uns beiden, okay, Jens?« Andresen nickte.
    »Roland, du sicherst uns nach vorne ab. Team 2 bezieht Stellung links vom Fahrzeug, Team 3 rechts. Alles wie besprochen! Alles klar, Männer? Dann los!«
    Berischa und Kasperski nickten ebenfalls kurz in die entschlossene Runde, dann schwärmten ihre Teams aus.
    ***
    Endlich am Bett ihres verletzten Vaters zu stehen war für sie wie das Ende einer Schlacht.
    Sie hatte eine versuchte Vergewaltigung überstanden und deren Folgen halbwegs verarbeitet, hatte das Ende einer zum Schluss bloß noch fragwürdigen Liebe hingenommen und wenige Stunden zuvor sogar auf ihren Wagen abgefeuerte Pistolenschüsse überlebt. Und das alles innerhalb weniger Wochen, Tage. Sie war eine Überlebende, eine Kämpferin, ein weiblicher Ninja,der erfolgreich sämtlichen Angriffen getrotzt hatte. Unkraut, das nicht verging.
    Jetzt aber, da sie am Ziel war, fühlte sie sich wie eine Marathonläuferin, die nach dem Überqueren der Ziellinie entkräftet zusammenbricht. Als hätte sie drei Noctamid auf einmal genommen, wirkte plötzlich alles vollkommen verschwommen. Wie beim Blick durch eine Milchglasscheibe.
    »Ich warte draußen«, sagte Ulrike und blieb am Eingang zurück.
    Chris sah ihren Vater, der die Augen geschlossen hielt, an, ließ ihren Blick über sein von einem dünnen, matt schimmernden Schweißfilm überzogenes Gesicht wandern, das sie kräftiger, voller in Erinnerung hatte. Anschließend weiter zu der hellbraunen Ledermanschette, die seine verletzte rechte Schulter umgab. Und schließlich hinab zu seiner rechten Hand, die reglos auf der dünnen weißen Bettdecke lag und kleine Abschürfungen aufwies. Dabei schob sie ihr Gesicht näher an seines heran und sagte: »Hallo Papa!«
    Einige Sekunden verstrichen, ohne dass sich etwas im Gesicht des Vaters regte. Dann zog er die faltigen, wächsernen Augenlider hoch und sagte mit einem angedeuteten Lächeln: »Hallo.«
    Sein ohnehin scharfgeschnittenes Kinn wirkte noch spitzer als früher. Und seine nicht sehr großen Augen schienen mit einem Mal weiter auseinanderzustehen. Alles in allem erinnerte ihr Vater sie plötzlich an einen in die Jahre gekommenen Windhund.
    »Jetzt wird alles gut«, sagte sie, griff nach seiner Hand und drückte sie. Dabei fühlte sie, wie eine Welle der Liebe für den Daliegenden in ihr anrollte und sie zu überschwemmen begann. »O Papa«, sagte sie, »Papa, Papa, Papa«, und fing an zu weinen.
    Dieses Wort auszusprechen, das ihr so oft auf der Zunge gelegen hatte wie ein zähes, unzerkaubares Stück Fleisch, fiel ihr plötzlich leicht und erschien ihr zugleich vollkommen selbstverständlich. Dabei hatte sie es so oft gemieden, abgestoßen vonder Kälte dessen, den es bezeichnete. Nun aber, da sie an seinem Bett stand wie eine Mutter am Lager ihres verunglückten Kindes, zählte das alles nicht mehr. Sie war hier, und sie spürte, dass es gut war.

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