Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
Dass sie in diesen Minuten an keinem anderen Ort der Welt sein wollte.
Wie um sie zu beruhigen, erwiderte Leo Mahler ihren Druck. »Ist ja gut«, murmelte er halblaut, »ist ja gut, meine Kleine!« So hatte er sie das letzte Mal vor einer halben Ewigkeit genannt, sie war damals sieben oder acht gewesen. Meine Kleine.
Sofort fächerten sich vor ihrem inneren Auge zahllose Erinnerungsbilder auf: sie als Fünfjährige im überfüllten, von lautem Kindergeschrei erfüllten Nichtschwimmerbecken des Freibades Flötenteich mit leuchtend roten Schwimmflügeln an den dünnen Ärmchen, während der wohlwollende Blick des Vaters auf ihr ruht. Leo Mahler in seinem Nutzgarten an der Bullwisch, wo er im durchgeschwitzten Feinripp-Unterhemd, auf einen in die kaffeebraune Erde gerammten Spaten gestützt, über die hochaufgeschossenen Tomatenpflanzen hinweg in die tiefstehende Abendsonne blinzelt, während sie in ihr mitgebrachtes Zuckerbrot beißt. Sie und der Vater im Casablanca-Kino, wo sie sich den Fantasyfilm »Tschitti Tschitti Bäng Bäng« über das gleichnamige Wunderauto anschauen und sie das erste Mal im Leben beseelt Popcorn mampft.
Doch wo ist die Mutter? Weshalb ist sie in keiner ihrer Erinnerungen mit im Bild? Hat sie sie herausgeschnitten? Aus ihrer Erinnerung getilgt? Aus Rache? Für all die hinterhältigen Demütigungen, die sie ihre ganze Jugend hindurch von ihr hinnehmen musste?
Gleichmäßig durch die Nase atmend, stieß Leo Mahler rasselnd die Luft aus. Dabei glitt sein Blick so langsam auf und ab wie eine Boje auf einem vom Wind bewegten Meer. Chris meinte, unter seinem Brustbein sein Herz schlagen zu hören, tsch-tsch, tsch-tsch, tsch-tsch.
Sie richtete sich auf und ließ die Hand ihres Vaters los, um sich die Tränen aus den Augen zu wischen. Dabei sah sie durchs Fenster auf den Vorplatz, wo Ulrike in der prallen Sonne auf einem der schweren, dunkel glänzenden Begrenzungssteine saß, welche die reservierten Personalparkplätze gegen die öffentlichen abgrenzten, und rauchte. Auf dem schmalen Rasenstück weiter links grub ein weißer, spindeldürrer Hund mit seinen Vorderpfoten ein Loch in den Boden und wirbelte Erdbrocken auf. Noch weiter links saß ein Mann auf einer Bank und las in der Bildzeitung.
Chris hasste Krankenhäuser, seit sie denken konnte. Denn verschlug es einen erst einmal dorthin, kam man unbeschadet nicht wieder heraus.
»Wanda, die Gute, hat den Arzt gerufen«, sagte Leo Mahler mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Ohne sie würde ich wahrscheinlich immer noch da unten liegen. Zwischen all den Nüssen. Sie hat mich gerettet. Zum Glück«
Chris musste alle Kraft zusammennehmen, um ihrem Vater seine Sicht der Dinge nicht auf der Stelle wie ein Stück Papier, auf dem bloß Lügen geschrieben standen, aus der Hand zu reißen, um es zu zerknüllen oder in Flammen aufgehen zu lassen. Und es gelang ihr nur unter größter Beherrschung, nicht augenblicklich loszuschreien und eine Salve wüstester Beschimpfungen in Richtung der Abwesenden abzufeuern. Stattdessen atmete sie zwei-, dreimal tief durch und sagte schließlich mit zusammengebissenen Zähnen: »Ja, zum Glück!«
Vor allem war da diese Idee. Sie war ihr auf der Zugfahrt gekommen, zunächst nicht mehr als eine vage Vorstellung. Doch je länger sie darüber nachdachte, desto logischer erschien ihr der Gedanke. Nun, am Bett ihres Vaters, der sie ansah wie ein aus dem Nest gefallener Vogel, sprach aus ihrer Sicht alles dafür, sie auszusprechen und in die Tat umzusetzen. Denn genau betrachtet, war sie fertig mit Bremen. Einer Stadt, die ihr kein Glück brachte. Weder in der Liebe noch beruflich. Und so sagte sieentschlossen: »Was hältst du davon, wenn ich eine Weile bei dir wohne? Natürlich nur so lange, bis du wieder auf dem Damm bist? Ich kann mich um dich kümmern und für dich kochen. Was meinst du?«
Sie sah ihren Vater an und suchte nach irgendeiner spontanen Regung in seinem Gesicht, die ihr sagte, dass der von ihr ausgestreute Samen auf fruchtbaren Boden gefallen war. Doch statt auf ihr Angebot einzugehen, sagte er:
»Ich hab gehört, dass diese verdammten Gangster heute Nacht auf der Autobahn auf ein Taxi geschossen haben. Da musste ich sofort an dich denken.«
Leo Mahler riss plötzlich die Augen unnatürlich weit auf wie ein Blinder, der gegen alle Logik ein Fetzchen Helligkeit in der Finsternis ausgemacht zu haben glaubt. »Aber Gott sei Dank war es nicht dein Taxi!«
»Nein«, sagte Chris mit zitternder Stimme und
Weitere Kostenlose Bücher