Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
seinen Worten in die Gegenwart zurück. »Ich hab dir versprochen, du gehst raus!«
Silke Bischoff nickte mechanisch und lief auf die Toiletten zu, blieb aber nach ein paar Metern stehen. Sie drehte sich zu Rösner, der ihr in geringem Abstand gefolgt war, um, sah ihn fragend an und sagte: »Warum gerade ich?«
***
Sie trat einen Schritt vor, tastend und skeptisch, wie man sich jemandem nähert, der nachts im Licht der Autoscheinwerfer reglos auf dem Asphalt liegt, um zu sehen, ob er noch am Leben ist.Gleichzeitig verspürte sie den Impuls, wegzulaufen, um sich das alles nicht ansehen zu müssen.
Überall auf dem Boden verstreut lagen Manuskriptseiten. Helle Rechtecke oder Rauten im Halbdunkel. Sie wusste sofort, dass sie nicht vergessen hatte, die Fenster im Arbeitszimmer und in der Küche zu schließen. Nein, nicht Durchzug, nicht der Wind hatte das angerichtet. Die Blätter, die zuvor einen ordentlichen Stapel auf ihrem Schreibtisch gebildet hatten, waren nicht in die Diele herübergewirbelt. Jemand hatte ihre Manuskriptseiten hier so drapiert. Jemand? Boris. Wer sonst.
Brigitte lauschte. Bis auf das vertraute schwache Wimmern des Kühlschranks und das gleichmäßige Ticken der Küchenuhr war alles ruhig.
Sie erkannte schnell, dass die Blätter etwas darstellten. Eine Linie bildeten. Eine Bahn, die vom Arbeitszimmer hinüber ins Badezimmer führte. Oder war es umgekehrt? Ihr kam in den Sinn, er könnte noch im Haus sein. Was, wenn er im Arbeitszimmer oder im Badezimmer lauerte? Wenn er nur darauf wartete, dass sie wie Gretel der ausgeworfenen Spur folgte? Angst strömte in ihre Glieder. Als ziehe sie eine unsichtbare Hand weiter, tiefer hinein ins Unglück, beugte sie sich über die Seiten und sah, dass der Kerl perfide kleine Pfeile neben die von ihr mit einem roten Korrekturstift vorgenommenen handschriftlichen Anmerkungen am Rand ihres neuen Mireille-Romans gemalt hatte. Die Pfeile wiesen Richtung Badezimmer.
Sie ging weiter, blickte durch die offene Tür ins Arbeitszimmer, auf aus den Regalen herausgerissene Bücher, die verstreut auf dem Boden lagen, ebenso Papiere, Fotos und Toilettenpapierschlangen. Ihr Eames-Chair war umgefallen und lag auf der Seite vor dem Schreibtisch. Verwüstet, dachte sie, als ihr Blick auf ihr geliebtes Vicki-Baum-Plakat an der Wand fiel. Das Gesicht der Schriftstellerin war mit schwarzem Filzstift bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet worden.
Ihre Angst verflüchtigte sich, wich einer nervösen Anspannung. Brigitte spürte, dass ihre Wut nun groß genug war, um sich ins Badezimmer zu trauen. Sie folgte den Pfeilen auf den Manuskriptseiten. Die goldene Kappe ihres Dior-Lippenstifts lag vor ihr auf dem Boden, mit ihm hatte der Mistkerl ihr Manuskript beschmiert. Und was hatte er ihr Wichtiges zeigen wollen? Worauf deuteten die Pfeile?
Als sie es sah, war sie enttäuscht. Natürlich: primitiv und egozentrisch. Boris war ein böses Kind. Sie stand vor der offenen Toilettenschüssel, in der sein Haufen in einer teebraunen Lache lag. Darüber ein mit Reißzwecken an der Wand angebrachter Zettel, auf dem in roten Lettern stand: DAS IST KUNST!
Lächerlich, dachte sie. In einer abrupten, wütenden Bewegung hieb sie so lange auf den Spülknopf, bis auch die letzten Reste des »Kunstwerks« in den weiß schäumenden Wasserstrudeln verschwunden waren. Dann riss sie das Fenster auf und verharrte reglos. Sie sah nach draußen, ein sachter Windhauch fuhr durch die Zweige. Sie fixierte die Blätter, bis sie unscharf wurden. Tränen rannen über ihre Wangen. Sie gab keinen Laut von sich, aber das Wasser lief ihr stetig über das Gesicht. Kraftlos und erleichtert ließ sie es geschehen.
Sie verließ das Bad, ging zum Telefon und wählte Helgas Nummer. Der Hörer fiel ihr aus der Hand. Als sie ihn wieder zu fassen bekam, hörte sie Helgas Anrufbeantworter anspringen und unterbrach die Verbindung. Einem Impuls folgend, lief sie ins Schlafzimmer und riss die Tür des Kleiderschranks auf. Der Platz, an dem sie den Schmuckkasten verwahrte, zwischen den BHs und den zu kleinen Paketen geformten Socken, war leer. Dann fiel es ihr wieder ein. Sie selbst hatte die Sachen kürzlich in den Keller … O Gott, das Panther-Collier, durchfuhr es sie. Sie lief ins Souterrain, wo seit ihrem Weggang am Morgen noch immer die kleine, auf dem Boden stehende Leselampe brannte und ein freundliches orangefarbenes Licht in dem ansonsten leeren Raum verbreitete.
Wo, zum Teufel, hatte sie das Collier bloß
Weitere Kostenlose Bücher