Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
Schatten des Doms, um die sich schreiend nach Abkühlung hungernde Kinder drängten, stellte sie das Rad unter einer der schattenspendenden Linden ab und kühlte ihr erhitztes Gesicht am Becken. Immer wieder ließ sie sich das kühle Wasser in den Nacken und über die Arme rinnen, obwohl es ihr Herz seltsamerweise noch schneller schlagen ließ und sie sekundenlang glaubte, ohnmächtig zu werden.
Zwischen all den Touristen auf dem Domvorplatz legte sie den Kopf in den Nacken, beschirmte die Augen mit der Hand und blinzelte ehrfürchtig hinauf. Dann lief sie zum Eingang des Doms, zog die schwere Tür auf und schlüpfte hinein in die Kühle des weitläufigen Sandsteingebäudes.
Es dauerte einen Moment, bis ihre Augen sich an das Halbdunkel im Innern der Kirche gewöhnten. Durch die Rosette schräg über ihr strömte buntgefiltertes Licht ein und erzeugte im Mittelschiff ein magisches Flirren, als drehte sich in der Höhe ein Kaleidoskop, das von dort oben wechselnde Licht- und Farbbündel auf sie herabfeuerte.
Chris eilte durch den Mittelgang und spähte hinauf zur Kanzel und zum Chorgestühl. Hinter ihr erklangen gedämpfte Stimmen und das spitze Geräusch von Schritten, gefolgt von unterdrücktem Hüsteln. Ein paarmal zuckten Blitzlichter auf.
Nach einigen Metern ließ sie sich wie beim letzten Mal in eine der Bankreihen gleiten, rutschte bis an deren äußeres Ende und legte ihren Kopf an das angenehm kühle Gemäuer. Etwas weiter vorn saß ein älteres Paar. Sie schloss die Augen und versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Wieder dachte sie an ihren Vater, der eine halbe Zugstunde entfernt in seinem Krankenhausbett lag und darauf wartete, dass man ihn in den Operationssaal schob.
Sie wäre den Bildern gern weiter gefolgt, doch das Knarren einer Bank erregte ihre Aufmerksamkeit, und sie öffnete die Augen. Zuerst war da nur ein Rücken. Wie zum Gebet vorgebeugt, hatte er ein paar Reihen vor ihr Platz genommen. Doch dann richtete sich der Oberkörper auf, und ein Kopf tauchte zwischen den Schultern hervor wie ein Ball, den eine Hand eben noch unter Wasser gedrückt hatte.
Chris spürte, wie ihr Puls in die Höhe schnellte. Sie stieß sich von der Bank ab und ließ im Hinausgehen ihre Hand über die glatte und leicht abgeschrägte Lehne der Sitzreihe vor ihr gleiten,bis sie an deren Ende gegen ein Gebetbuch stieß und mit einem Schritt aus der Bankreihe heraustrat.
Sie ging zwei, drei Schritte, blieb stehen und fixierte die im Halbdunkel reglose Gestalt.
»Adam? Bist du das?«
»Woher wusstest du, dass ich hier bin?«, sagte er und wandte sich ihr zu.
»Ich wusste es nicht«, antwortete sie. »Ich habe es gehofft.«
Chris setzte sich neben ihn und blickte kurz auf den Altar, vor dem eine zwischen zwei Holzstützen gespannte Schnur signalisierte: Bis hierhin und nicht weiter! Sie schloss die Augen und horchte in die Dunkelheit hinein, atmete die leicht nach Weihrauch riechende Luft. Sie spürte, wie er seinen Kopf in ihren Schoß legte. Sie ließ es geschehen und strich ihm mit den Fingern durchs Haar, langsam und zärtlich, wie man ein Kind zum Schlafen bringt. Sie fühlte seinen warmen Atem auf ihren Oberschenkeln und war mit einem Mal zuversichtlich wie lange nicht mehr.
Eine Viertelstunde später traten sie aus dem Halbdunkel des Doms in die gleißende Helligkeit des Vorplatzes. Sie hielten sich beklommen an den Händen wie zwei, die man auf einer einsamen Insel ausgesetzt hat, nichts als undurchdringliche Wildnis vor Augen. Erst jetzt bemerkte Chris seinen Koffer.
»Verreist du?«, fragte sie überrascht und sah ihn fragend an.
»Ja. Ich gehe weg von hier, weg aus Deutschland. Zurück nach Polen«, antwortete er und stellte den Koffer neben sich ab.
»Aber wieso denn?«
»Weil hier Dinge passiert sind, die es mir unmöglich machen, auch nur einen einzigen Tag länger zu bleiben«, sagte er. Dann sah er sie an, packte den Kragen ihrer Bluse und rieb den dünnen Stoff nachdenklich zwischen Daumen und Zeigefinger. »Komm einfach mit.«
Chris sah ihn ungläubig an und schluckte.
»Ja«, sagte er und griff nach ihrer Hand. »Komm mit, Eva!«
»Eva? Wieso Eva?«
»Adam und Eva gehen nach Polen. Klingt doch gut. Wie der Anfang einer schönen Geschichte. Es ist der Anfang der Geschichte.« Er lachte und ließ ihre Hand wieder los.
»Ja, das stimmt«, sagte sie. »Aber ich kann nicht einfach so weggehen, hier alles stehen- und liegenlassen.« Am liebsten hätte sie sich ihm auf der Stelle
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