Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
fürchterliches Drama: Menschen konnten jeden Moment vor ihren Augen durch Pistolenkugeln sterben. Und Sirvan hatte gelacht, gestikuliert, sich unterhalten, hatte vergnügt mit den Augen gerollt. Fand das alles scheinbar ganz normal. Genau wie all die anderen.
Er hatte zuerst nicht wahrhaben können – oder wollen? –, was sich vor seinen Augen abspielte, und sich wie selbstverständlich davon ausgenommen. Doch dann hatte er in ihrem naiven, unbekümmerten Lachen plötzlich mit schmerzhafter Unabweisbarkeit das gespiegelt gesehen, wovor er sich immer gefürchtet hatte.
Sein Heft, das er noch in einer Schublade aufbewahrte und dessen Inhalt ihn jahrelang erfolgreich vor dieser Bewegung, vor diesem unüberlegten, unmerklichen Ruck ins Unseriöse, ins Unzulässige bewahrt hatte, konnte er nun verbrennen.
Maibach erwartete ihn sicher längst ungeduldig in der Redaktion. Bertram sah auf die Uhr. Doch er blieb sitzen und starrte auf den zuckerverkrusteten, bräunlich verfärbten Boden seiner Tasse, als eine Männerstimme sagte: »Diese Journalisten sind ja wohl total übergeschnappt!«
In der Stimme lag etwas Fragendes, als erwarte sie eine Antwort von ihm. Statt aber aufzusehen und zu antworten, schob und bugsierte er die neben sich auf dem Boden liegende Kamera so lange unmerklich mit dem Fuß unter den Tisch, bis sie darunter verschwunden war. Dann hob er den Kopf, vollführte eine Vierteldrehung, sah den Mann ganz ruhig an und sagte: »Ja, total.«
***
Er ließ das Buch nachdenklich neben sich aufs Bett sinken und rieb sich die Augen über der Nasenwurzel. Der letzte Satz ging ihm nach. »Es sehe so aus, als stehe er mit leeren Händen da …«
Marc glaubte, sich selbst in diesem Satz zu sehen. Wie in einem Spiegel. Dabei hatte Meursaults Geschichte nicht das Geringste mit ihm zu tun. Okay, auch er hatte seine Mutter verloren. Und Meursaults Verhältnis zu Marie war genau genommen ebenso ungeklärt wie seines zu Rachael. Doch stand er deswegen mit leeren Händen da?
Vieles war in den letzten Tagen aus der Spur geraten. Trotzdem wollte er mehr über sich und das Leben erfahren. Er begriff, dass es nichts Zufälliges gab. Die Dinge waren in Bewegung gekommen. Und völlig offen war, in welche Richtung sie laufen würden. Der Großvater kämpfte mit dem Tod, Rachael ließ offen, wie es mit ihnen weiterging, und hatte nicht wirklich verraten, weshalb sie nach so langer Zeit wieder vor seiner Tür stand. Zudem war seine KTM futsch. Er hatte Wandrey kennengelernt und dadurch eine Seite von Rachael zu sehen bekommen, die ihn in allergrößte Verwirrung brachte. Was war mit den Geiseln in Bremen? Oder waren sie womöglich schon sonst wo? Er überlegte kurz, den Fernseher anzumachen. Ließ es aber sein. Es spielte keine Rolle mehr.
In einem halben Jahr standen die Abiturprüfungen an, und dann war all das hier sowieso Geschichte. Der Großvater wäredann wieder in seinem Zimmer Auf der Aue – oder in Hanauer Friedhofserde begraben. Seinen Sozialdienst, den das Gericht ihm aufbrummen würde, hätte er abgeleistet. Die Bremer Anwaltsgehilfin Silke Bischoff würde wieder arbeiten, genau wie ihre Freundin. An Hanaus abgewaschenen Häuserwänden würden wahrscheinlich nicht mal mehr Spuren an ihre Graffiti erinnern. Und wenn alles gutginge, wären Rachael und er noch zusammen und würden Pläne schmieden. Doch bis dahin war es noch lange hin. In einem halben Jahr konnte viel passieren.
Er war in keiner guten Phase. So etwas kam vor. Es würden auch wieder bessere Zeiten kommen. Ganz bestimmt. Und natürlich würde er zurückfinden in sein altes Leben, auch wenn es dann ein neues wäre. Und wahrscheinlich eines ohne den Großvater. Doch wie würde ein Leben ohne den Alten aussehen?
Er musste daran denken, wie der Großvater einmal sein geliebtes altes Schweizer Taschenmesser, das er immerzu bei sich trug, verlegte, und er, Marc, es, nachdem der Alte angeblich jeden Winkel seiner kleinen Wohnung erfolglos danach abgesucht hatte, auf dem Spülkasten im Bad fand. Die Klinge ausgeklappt, überzogen mit getrocknetem Honig. »Ich habe es im Bad auf der Klospülung gefunden«, hatte Marc gesagt und es dem Großvater hingehalten.
Daraufhin hatte der Alte die Nase gerümpft, das Messer leicht missbilligend angesehen und gesagt: »Das ist nicht mein Messer!«
Wenn es darum ging, seine eigenen Möglichkeiten zu erkennen und seine Grenzen, dann war der Großvater dazu nicht mehr in der Lage. Wandrey hatte mal, in einem Nebensatz,
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