Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
davon gesprochen, dass das Leben mit jedem Tag neu beginne, auch wenn ihm selbst kein wirklicher Neuanfang mehr gelungen sei, nachdem seine große Zeit in Berlin als Fotograf vorbei war. Marc gefiel die Vorstellung, dass das Leben jeden Tag neu begann. Er war bereit.
Ich sollte wieder häufiger Vögel beobachten, dachte er. Und mein Vogeltagebuch wieder aufnehmen. Er hatte stets das Bekannte geliebt und das Unbekannte gescheut. Vielleicht war das Entscheidende, auf das Unbekannte zuzugehen. Mutig zu sein.
Er hob das Buch an und las weiter. »Dem Tod so nahe hatte Mama sich gewiss wie befreit gefühlt und bereit, alles noch einmal zu erleben. […] Und auch ich fühlte mich bereit, alles noch einmal zu erleben.« Dann klappte er das Buch zu, legte es neben dem Bett auf den Boden und machte das Licht aus.
***
Nachdem er die Spuren von Erbrochenem rund um die Kloschüssel mit hastig von der Rolle gerissenen Papierfetzen gereinigt hatte, war er zurück in die Küche gegangen, hatte Anettes Teevorräte gesichtet und sich eine Kanne Fencheltee aufgebrüht.
Nun lag er wie der Kleine Prinz auf seinem Planeten einsam und allein auf der kleinen Terrasse unter der grün-weißen Markise im Liegestuhl und hielt die Tasse in der Hand. Er hatte Jasmin unlängst aus dem Buch vorgelesen und fragte sich, wo sie eigentlich blieb. Normalerweise konnte sie es kaum erwarten, in den Garten zu laufen und in dem Sandkasten, den er ihr im Vorjahr angelegt hatte, mit ihren Förmchen und ihrer Schippe herumzufuhrwerken.
Hinter dem Zaun leuchteten sattgrün die Wümmewiesen. Am Himmel schob sich eine silbrig glänzende Passagiermaschine durch das wolkenlose Blau und hielt auf die Sonne zu. Wenig später schwebte ein orangefarbener Rettungshubschrauber durchs Bild. Auf den strahlend lilafarbenen, den Geruch von schwerem Altfrauenparfüm verströmenden Blüten des Sommerflieders rangelten bunte Schmetterlinge um die besten Plätze. Eigentlich eine Bilderbuchidylle, dachte er. Trotzdem betrachtete er das Ganze wie durch eine verschmierte Brille. Alles war eingetrübt durch Schlieren, die sich durch seine Wahrnehmung zogen.
Wo blieb Jasmin? Ahrens dachte an das Gespräch mit Dagmar Scharlow. Vielleicht würde er sie mal zu einem Glas Wein einladen. Heute und sicher auch morgen würde er keinen Schritt vor die Tür setzen. Er würde erst mal durchatmen, zwei, drei Tage pausieren, gar nichts tun, abschalten und sich dann langsam wieder ins Geschäft zurücktasten.
Ahrens stellte die halbvolle Tasse neben sich auf den Boden, erhob sich aus dem Liegestuhl und lief ins Haus. Er nahm die ersten Treppenstufen und hörte Stimmen und Geräusche. Als er die Schlafzimmertür aufstieß, saß Jasmin im Halbdunkel auf der Bettkante vor dem laufenden kleinen Fernseher, den sie kürzlich bei einer Tombola des Bremer Apothekervereins gewonnen hatten. Sie starrte gebannt auf die Mattscheibe. Er trat neben sie und sprach sie an, doch sie blieb ganz auf den Fernseher konzentriert, schien ihn überhaupt nicht wahrzunehmen, war vollkommen gefangen von dem, was sie sah: ihn, ihren Vater, im Gespräch mit Rösner, der in der offenen Tür eines Linienbusses stand und seine Pistole in der Hand hielt.
Offenbar war sie in eine Zusammenfassung der bisherigen Ereignisse geraten, einen dieser immer wieder präsentierten Neuaufgüsse, mit denen die TV-Macher das Grauen in die Haushalte spülten und am Laufen hielten. Wir melden uns in Kürze live aus … bla, bla, bla. Die Bilder waren inzwischen mehr als 20 Stunden alt.
»Was redest du da mit dem bösen Mann?«, sagte Jasmin, ohne ihren Blick von dem Fernseher zu lösen.
»Nichts. Das verstehst du nicht«, antwortete er, unfähig, das in dieser Situation einzig Sinnvolle zu tun: das Gerät auszuschalten. Stattdessen starrte er auf die Mattscheibe, sah sich als willenlos Ausführenden einer von anderen choreographierten Pantomime. Ihm war, als löschten die Bilder ihn aus, wie Wasser Farbe auflöst.
In der Diele läutete das Telefon, und er kehrte erschrecktund ebenso verwundert wie der Hypnotisierte, dem per Fingerschnippen das Zeichen zur Rückkehr aus der Trance in die Realität gegeben wurde, in die Gegenwart des hochsommerlichen Augusttages und des halbdunklen Zimmers zurück. Er drängte sich an seiner Tochter vorbei und machte den Fernseher aus.
»Nein, Papa, bitte«, schrie die Kleine, strampelte mit den Beinen und versuchte, den Apparat wieder einzuschalten. Da packte Ahrens seine Tochter, hielt sie fest an
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